Wenn einmal die Vierteljahrhundertschwelle überschritten ist, rücken Ereignisse, die einem bis vor kurzem noch auf dem Leib zu brennen schienen, endgültig in den zeithistorischen Horizont. Dann erinnern Zeitungs-Dossiers an 1968, die Anfänge der Anti-Akw-Bewegung oder, wie kürzlich, an das Jahr 1977, das sich als "bleierne Zeit" in die Annalen eingeschrieben hat. Die nun zu Chronisten mutierten Kombattanten schwingen sich auf erhöhten Beobachtungsposten und tauchen das Erlebte - je nach Temperament - entweder ins milde Licht historisierender Betrachtung oder geben es dem Feuer zynischer Denunziation preis. Dabei ist das Jahr 1977 eine Wegmarke, die - nicht nur für die alte Bundesrepublik - einen ursprünglich als offen erlebten Prozess endgültig
ig abgebrochen hat. Dies gilt insbesondere für jene "Zwischengeneration", die nicht mehr unmittelbar zu den Altachtundsechzigern gehört, aber als junge Erwachsene noch in deren Windschatten segelte und nun quasi "geschichtslos" scheint: "Keiner erzählt uns unsere Geschichte. Keiner sagt, macht weiter."Friederike Kretzen, Jahrgang 1956, ist eine, die versucht, diese Geschichte eines Aufbruchs und Abbruchs aufzufangen und einzufangen in höchst eigenwilliger Manier. Sie habe diese Geschichte erzählen wollen, erklärte sie kürzlich, ohne sie zu denunzieren und auszuliefern an ihr Scheitern. Von exterritorialem Posten im Grenzland Basel, wo die gebürtige Leverkusenerin seit Jahrzehnten als freie Autorin lebt, tastet sie sich zurück in eine scheinbar im Abseits der "großen Revolution" stehende Stadt, nach Gießen. Provinziell, kunstfeindlich bis in jede Mauerritze, aber schon früh therapeutisch gestimmt und mit der höchsten Analytiker-Dichte der Republik aufwartend, ist die hessische Universitätsstadt Mitte der siebziger Jahre Schauplatz von Kretzens Übungen zu einem Aufstand.Doch weit gefehlt, wer hier biographische Bekenntnisse, zeithistorische Betrachtungen oder nachgetragene politische Deklaration erwartet. Auch keinen Roman im herkömmlichen Sinn präsentiert die Dramatikerin Kretzen, eher schon ein Theaterstück, eine szenische Übung, Deklamation. Das in "Anfangen", "Vorstellen" und "Üben" unterteilte Projekt ist eine nachgeholte traumhafte Lesung, die Traumatisches aufwirft, (nicht nur) Seelen- und Erinnerungslandschaften ausmisst, Abgründe auslotet. Es ist "ein Bericht", der "in die Zeit wandert" und davon handelt, dass, "wenn wir träumten, wir müssten alles noch einmal machen, das kein Traum gewesen war, sondern Arbeit".Das autobiographisch nachempfundene, aber nicht historisch verbürgte Ich, Maria, trifft nach Jahren der Abwesenheit im hessischen Bergland die alte studentische Theatertruppe wieder. Zunächst bleibt es bei Erinnerungsfetzen an die Kindheit und die Zeit "danach", nach dem studentischen Aufbruch im Kleinkollektiv. Erst trieb es sie weg von den Familien, dann weg aus dieser kleinlichen, engen Stadt. Reisen nach Afghanistan, Indien, Amerika. Aussteigen und Ankommen durch Wegfahren. Raus aus der "kippenden Zeit" und der eigenen "Nichtvorhandenheit".Es ist ein sehr inhomogenes Personal, das sich da am Rande der Universität zum Theater- und Polittheaterspielen zusammengefunden hat: Maria zum Beispiel, das Kind armer Eltern, das "seinen Vater aufgefressen" hat und auf "Märchenanfängen hinausgehen" kann; Karl ohne klare Herkunft, aber mit einem sicheren Satz, seinem "Bett": "die Serengeti darf nicht sterben"; Marianne, die "nicht tot und kein Knabe" ist und also nicht "Erlkönigs Sohn" werden kann, dafür mit "Fury", dem Fernsehpferd, in Nacht und Nebel reitet; oder "Edmundo für immer", der so heißt, weil er für immer bleiben darf in der von Amerikanern besetzten Gegend "voller Anti-Ödipusse und Wunschmaschinen". Und Esther, Susi, Johanna, Thomas, Willi ...; jeder mit seiner Geschichte, die ein "Loch" ist, in dem man verschwinden kann wie Rumpelstilzchen.Sie singen das Madagaskar-Lied und vom Negeraufstand; von "Flüssen, in denen Leiber mit aufgeschlitzten Bäuchen" schwimmen und "Knaben, die sich an den Ecken von Eiter laben". Versatzstücke einer grausigen Kinderkultur, an die sich die Fantasie heftet. Sie spielen zuerst "Indianer" und später "besetztes Haus" und "das Kind, das wir nicht waren". Sie spielen, um "erkennbar zu sein und gelesen zu werden". Die Indianer lieben sie besonders, denn sie sind wie sie selbst, sie sind das, "was fehlt, ein leergefegtes Gebiet": "Wo Indianer sind", sagt Maria, "ist kein Indien, und Indien ist, wo keine Indianer sind. Eigentlich nämlich ist Amerika leer."Diese "leere Fläche" ihrer Generation und auch ihres Geschlechts versuchen die Figuren dieses bizarren Stückes spielend zu bewältigen, getrieben von ihrer Sehnsucht nach Geschichte. Das Indianer-Motiv knüpft an den Roman Indiander (1996) an, der ersten Folge dieser lockeren und in weiten zeitlichen Abständen vorgelegten chronologischen Pubertäts-Trilogie. 1998 setzte Kretzen sie fort mit Ich bin ein Hügel, mit den Übungen zu einem Aufstand findet sie nun ihren Abschluss. Wie in den thematisch, aber nicht personal verwobenen Vorläuferbänden spielen auch hier die Landschaft und die Tiere eine entscheidende Rolle.Die Bewegung in der Landschaft, erklärte mir Friederike Kretzen einmal in einem langen Gespräch, zeichne ihre Bewegung in der Sprache nach. So stehe der "Berg" für die Vernichtungsmöglichkeit, die Gewalt, die sowohl Körpern als auch der Sprache inne wohnten. Der "Hügel" dagegen sei leichter zu nehmen, offener, beweglicher. Offen wie die Tiere, die sich - wie fast immer bei Kretzen - auch in diesem neuen Text als "Publikum" einmischen. Sie werden von der Autorin begriffen als "Zustände" und "Räume", die noch nicht gedeutet, "bezeichnet" sind: diesmal sind es vor allem die Pferde, dieses analytische "Übertragungsobjekt" mädchenhafter Sehnsucht.Was sich sprachlich eröffnet, ist erinnerter Raum, der von der Truppe noch einmal "übend" nachgespielt und in Besitz genommen wird. Das "Übungsbuch" der Revolution allerdings birgt ein "Theater der Grausamkeit": In der Politszene und den akademischen Zirkeln der siebziger Jahre, in den Wohngemeinschaften und Selbsthilfegruppen herrscht zwar das "Gefühl des Anfangs", doch das offene Feld mündet auch in furchtbaren Abgründen. Eingeübt wird nämlich nicht nur die Freiheit, sondern auch die gegenseitige Verletzung und die politisch oder therapeutisch kaschierte Unterdrückung. Spätestens 1977, mit dem Tod der Frau, die über die "Mädchen im Erziehungsheim" schrieb, ist alle Offenheit zu Ende.Dass Kretzen das Projekt dennoch nicht preisgibt, gründet in ihrer unglaublich sensiblen Spracharbeit, die ihr hilft, "an intensive Stellen" zu kommen, wie sie sagt. Der Kummer der Freunde, "keine Surrealisten" zu sein und "nicht in Paris zu leben", ist so wenig beliebig wie der Verweis auf Artaud. Die Öffnung des Raumes in phantastische Landschaften hat bei Kretzen Methode: "Mit unserer Muttersprache verschließen sie uns Kehlen und Münder", sagt Karl. Das Theater führt zu dem, "was fehlt": "Sobald du das Ausgeschlossene geworden bist, löst es sich aus der Wüste, aus der Ebene zwischen Vogelsberg und Wetterau, und wird ein Strömen, ein Wahrnehmen ohne Grenzen."Diese hochartifizielle, surrealistische Grenzüberschreitung setzt die Autorin Kretzen unablässig ins Bild, in die Landschaft, die auch Bühne ist. Reales und Imaginäres sind, noch viel radikaler als in den früheren Texten, unentwirrbar miteinander verwoben, beschwören die "Andersheit", von der die Figuren träumen. Es bedarf schon einer gewissen, gewohnte Leseübungen strapazierenden Entzifferungsfreude, um diesen aufgespannten, entgleisenden Sprachraum zu erkunden. Dann jedoch "verlieren die Papierecken ihre Haftung, Klammern fallen ab, Bänder reißen", und aus den Photos rutschen "die Kinder, die wir nicht waren" und die nun das Meer befragen, wer sie sind.Friederike Kretzen: Übungen zu einem Aufstand. Roman. Verlag Stroemfeld, Frankfurt 2002, 180 S., 15 EUR
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