Licht ins Dickicht

Kinder Die Politik wird der Vielfalt der Familienmodelle immer weniger gerecht. Die SPD will das endlich ändern
Ausgabe 16/2015

Möglicherweise stehen viele Mütter und ein paar Väter in den kommenden Wochen einmal mehr vor verschlossenen Kita-Türen. Verdi hat weitere Warnstreiks angekündigt, um der Forderung, Kinderpflegerinnen, Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen – in diesem Fall ist die weibliche Form angebracht, denn die Mehrzahl der in diesen Berufen Tätigen sind Frauen – in höhere Entgeltgruppen einzuordnen, Nachdruck zu verleihen. Denn insbesondere frühkindliche Erziehung ist unserer Gesellschaft immer noch weniger wert als eine qualifizierte kaufmännische oder technische Tätigkeit. Die Anhebung um zwei bis drei Gehaltsgruppen würde dokumentieren, dass „haushaltsnahe“ Tätigkeiten wie etwa Kindererziehung wertvoll und nicht umsonst oder für wenig Geld zu haben sind, wie wir es selbstverständlich von Müttern erwarten.

Wenn erwerbstätige Eltern demnächst also noch mehr Stress haben sollten, ihre Kinder unterzubringen und deshalb sauer sind, sollten sie bedenken, dass die um materielle Anerkennung streikenden Beschäftigten indirekt auch ihre Interessen vertreten. In SPD-Chef Sigmar Gabriel haben sie einen unerwarteten Bündnispartner gefunden: Er ließ kürzlich wissen, dass die Entlohnung in typischen Frauenberufen deutlich besser werden müsse. Von gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit seien wir weit entfernt.

Im selben Interview hat Gabriel auch einen neuen Vorstoß der SPD in der Familienpolitik angekündigt und damit seiner Parteifreundin Manuela Schwesig den Rücken gestärkt. Die Kinderförderung will er „vom Kopf auf die Füße“ stellen, zu diesem Zweck das Steuerrecht reformieren und dafür notfalls auch das Grundgesetz ändern. Es gehe nicht an, dass Kinder von Wohlhabenden dem Staat mehr wert seien als von Normalverdienern oder ärmeren Eltern. „Die Kinderförderung über die Einkommensteuer führt dazu, dass Kinder nach oben veredelt werden und nach unten verelenden“, sagte der SPD-Vorsitzende.

Familienministerin Schwesig hatte von ihrem Kabinettskollegen Wolfgang Schäuble kürzlich gefordert, den seit 2004 nicht mehr veränderten Entlastungsfreibetrag von 1.308 Euro für die 1,6 Millionen Alleinerziehenden – davon die große Mehrheit Frauen – deutlich anzuheben, um deren Benachteiligung gegenüber verheirateten Paaren, die vom Ehegattensplitting profitieren, zu begegnen. Angesichts der Tatsache, dass derzeit fast 40 Prozent aller Ein-Eltern-Familien auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind, wäre das zumindest eine erste, wenn auch keineswegs ausreichende Maßnahme gegen Kinderarmut.

Ungerechtes System

Welche Auswirkungen ein auf die Ehe und das (männliche) Allein-Verdiener-Modell abgestelltes Familienbild steuerlich haben kann, rechnet der Verein für öffentliche und private Vorsorge vor: Für ein verheiratetes Paar mit einem Jahreseinkommen von 60.000 Euro beträgt der maximale Effekt des Steuersplittings – wenn also nur einer von beiden verdient – rund 5.800 Euro. Ein Alleinerziehender kann dagegen nur 1.308 Euro jährlich geltend machen. Das entspricht einer jährlichen Entlastung von 420 bis 480 Euro.

Der Vielfalt der Familienmodelle wird eine solche Politik also schon lange nicht mehr gerecht. Das bestätigte sogar die CDU-nahe Adenauer-Stiftung kürzlich in einer Studie. Das derzeitige System begünstige die Hausfrauenehe und verhindere, dass verheiratete Frauen in gleichem Maße erwerbstätig werden wie Männer, mit der Folge, dass die Frauen keine eigene Rente ansparen. Die relativ niedrige Beschäftigungsquote von Müttern führt außerdem zu Einkommensverlusten der Familien.

Das gerade um vier Euro angehobene Kindergeld verstärkt diese Ungerechtigkeiten noch. Einmal abgesehen davon, dass nicht nachvollziehbar ist, warum auch Einkommensmillionäre Anspruch auf Kindergeld haben sollen, profitieren auch hier die Besserverdienenden. Durch die in Europa einmalige steuerliche Verrechnung von Kinderfreibetrag und Kindergeld bringt ihnen der Abzug des Kinderfreibetrags nämlich viel mehr als das Kindergeld. Von den Alleinerziehenden erreicht aber überhaupt nur ein Viertel die Einkommensschwelle, ab der der Freibetrag vorteilhaft ist. Ist eine Familie andererseits auf Grundsicherung angewiesen, wird das Kindergeld wiederum auf die Transferleistung angerechnet: Sie gehen leer aus.

In anderen europäischen Ländern, etwa in Frankreich, geht man andere Wege. Dort wird das sogenannte Familiensplitting, das in abgewandelter Form auch die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm aufgenommen hat, praktiziert. Das Einkommen der Familien wird zusammengerechnet und durch die Gesamtanzahl der Familienmitglieder geteilt (wobei Kinder nur 0,5 zählen). Allerdings wird in Frankreich kaum Kindergeld bezahlt. Belohnt werden Paare, die zusammenleben, während Alleinerziehende ebenfalls im Nachteil sind. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung stellte dem von der Union vorgeschlagenen Modell kein gutes Zeugnis aus: Familien im untersten Zehntel der Einkommensskala würden vom Familiensplitting mit nur 300 Euro, die im obersten Zehntel mit rund 840 Euro jährlich entlastet.

So gesehen dürfte also nicht die Form des Zusammenlebens der Maßstab sein, sondern die Kinder selbst und ihr Bedarf. Der Verein für öffentliche und private Fürsorge schlägt deshalb ein einheitliches Existenzminimum für Kinder vor, das auch ihre gesellschaftlichen Teilhabebedürfnisse berücksichtigt. Für eine Art der Grundsicherung von Kindern fänden sich politisch auch Kombattanten, die grüne Finanzexpertin Lisa Paus plädiert dafür, den Kinderfreibetrag einheitlich auszubezahlen.

Eine radikale Reform des Familienlastenausgleichs könnte also mit der Einführung einer staatlich finanzierten Kindergrundsicherung beginnen, die den Vorteil hätte, das intransparente Dickicht der Familienförderung freizuschlagen und alle Familienformen rechtlich gleichzustellen. Aber soweit wird SPD-Chef Sigmar Gabriel wohl nicht gehen. Für ihn steht ohnehin die Profilierung seiner Partei für die Bundestagswahl 2017 im Vordergrund. Aber auch wenn sich demnächst keine Große Koalition findet, die das Ehegattensplitting abzuschaffen bereit wäre – auch Manuela Schwesig will aus Vertrauensschutzgründen an ihm festhalten –, wäre das Steuerrecht in der Weise zu entrümpeln, dass die Steuerlast gleichmäßig auf beide Partner verteilt wird und nicht dazu führt, dass Frauen um der Steuervorteile willen zu Hause bleiben.

Kita und Kinderwunsch

200 Milliarden Euro verteilt der Staat jährlich an die Familien, davon 41 Milliarden an Kindergeld; 20 Milliarden kostet das Ehegattensplitting, das eigentlich noch viel teurer ist, wenn man die Aufwendungen hinzurechnet, die für nicht erwerbstätige oder teilzeitarbeitende Frauen im Alter in Form von Grundsicherung fällig werden. Auf den Kinderwunsch hat das Kindergeld, so eine Studie des Familienministeriums, wenig Auswirkungen. Viel wichtiger ist die Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen. Dafür gibt das Bundesfamilienministerium aber nur 19 Milliarden Euro aus.

Mit ihrem Kampf für eine qualitativ gute und angemessen bezahlte öffentliche Kinderbetreuung stehen die Verdi-Mitglieder also auch in dieser Hinsicht auf der Seite von Familienministerin Schwesig, denn deren Nachwuchs ist auf den Nachwuchs von Erziehern und Betreuern angewiesen. Vieles deutet derzeit auf die Ausweitung eines Arbeitskampfes hin, in dem es wie bei der Familienförderung um mehr geht als um ein paar Euro.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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