Als erstes fallen die Collagen in den Blick. An hohen Wänden hangeln sie sich durch den düsteren Raum, geben ihm Farbe. Immer wieder schweift von der Bar der Blick nach oben, unwillkürlich in Entzifferungsarbeit vertieft. Sinn oder Unsinn? Eher Pseudo-Dada und Anleihen an Konkrete Poesie. Was fürs Auge eben, wenn die Zitate, die sich als Laufbänder durch den Raum ziehen, ausgereizt sind.
Ob er sich hier wohlfühlen würde? Er mochte teure Hotels und landete doch nicht selten, aus chronischem Geldmangel, in billigen Absteigen. Und immer an Caféhaustischen, an denen er wild schreibend seine Tage verbrachte. Schreibend und trinkend. Es gibt ein Foto, das ihn und Stefan Zweig im Exil vor einem Café in Ostende zeigt. Er blickt in die Kamera, tiefliegen
efliegende Augen, schütteres Haar und irgendwie unförmig wirkend. Sichtlich verlebt und nicht mehr ganz nüchtern. Vor ihm das Glas Wein und die Zigarette zwischen den Spinnenfingern. Ein Schattenwesen, wird seine damalige Begleiterin sich erinnern. Es gebe heute nichts mehr Warmes zu essen, werden wir vom Mann hinter der Bar belehrt, alles weggegessen. Dann läuft der Laden ja gut an? Na ja, meist sei abends noch vom Eintopf da, der vom spiritualistisch angehauchten altkatholischen "Franziskanerhof" aus dem brandenburgischen Zehdenick angeliefert wird. Ein bisschen schwebt der esoterische Geist auch von nebenan aus dem "Ave Maria" herein, wo sich der freireligiöse Devotionalienhandel seine Nische geschaffen hat. Die dort ansässige Madonnen-Sammlung kann es mit jedem Fatima-Vertrieb aufnehmen. Dass sich so manches Heiligenbildchen zwischen die Collagen, Sprüche und Flaschen gestohlen hat, ist Absicht, denn das "Ave Maria" und die neueröffnete "Joseph-Roth-Diele" haben dieselben Inhaber. Dass sie seit dem 1. Mai den Bewohnern des tristen Potse-Kiez einen neuen Unterschlupf gewähren, zeugt von echtem Idealismus, denn in der Meile zwischen Bülowstraße und Potsdamer Brücke erinnert kaum noch etwas an den Glanz der angeblich Goldenen Zwanziger Jahre. Die Läden wechseln fast monatlich ihre Betreiber, bleiche "zu-vermieten"-Schilder säumen die Straße, und gelegentlich stellt der Wirtschaftssenator die verwaisten Räume vorübergehend insolventen KünstlerInnen zur Verfügung. Hier, kaum ein paar hundert Meter vom Geld-Prunk des Potsdamer Platzes entfernt, existiert eine unsichtbare Mauer. Kein Mensch weiß, ob aus der Abbruchmeile irgendwann eine Himmelsleiter für Investoren wird. Viel ist nicht los an diesem Abend. Vor der Türe zwei Tische, und ein paar versprengte Gäste. Kein Musiker, der das Klavier bearbeitete, und die Drehorgel, die vor hübschen freigelegten Kacheln steht, ist offenbar nur Dekoration. Kein Refräng, der dem Ausländer Roth einst im Berliner Nachtleben vom wehrlosen Ohr ins wehrlose Gedächtnis schlich und Wurzel fasste: Im Mai, im Mai blüht Liebe noch und Lust/vorbei, vorbei ist´s meist schon im August ... Der Name dieser neuen Lese- und Trinkstube für den Kiez verdankt sich also der Tatsache, dass der Journalist und Romanautor Joseph Roth in den zwanziger Jahren zwei Häuser weiter lebte und für das Prager Tagblatt oder den Vorwärts nicht nur vom Berliner Nachtleben berichtete. Ein gutes Stück weiter oben residierte übrigens Ernst Rowohlt, weiter unten Siegfried Kracauer, und dazwischen eingeklemmt, in der Kurfürstenstraße, Walter Benjamin. Der alte Berliner Westen, als Laboratorium der Intelligenz. Heute erinnert nichts mehr an diese berühmten Nachbarschaften, die damals allerdings meist noch gar nicht so bekannt waren. Im Unterschied zu seinen Nachbarn war Roth ein Stadtnomade und heimatlos. Er suchte nach Welten, die ihm wesensfremd waren und von denen er hoffte, daß sie ihm unerkennbarer und wärmend bleiben würden. So jedenfalls erinnert es Irmgard Keun, die sich, ebenso wurzellos, mit Roth durch ein paar Exiljahre schlug. Kennen gelernt haben sie sich natürlich in einem Café, dem Flore. Auch Keun war eine trinkfeste Kaffeehausschreiberin, das verband. Mittlerweile sind wir die einzigen Gäste. Vielleicht von Roth animiert, plaudern wir über Weggehen und Ankommen in der Berliner Unverbindlichkeit und dass man nur in der Sprache aufgehoben sei. Verworrene Kneipengespräche zu fortgeschrittener Stunde, die der Sprachskeptiker, der das heilige Schweigen ehrte, sicher spitzzüngig kommentiert hätte. Über dem Klavier hängt ein Spitzweg-Imitat. Ganz wesensfremd. Bald sollen, so kündigt das Programm an, darunter polnische Lieder gesungen werden. Und natürlich Roth gelesen. Für die nächtlichen Kiez-Nomaden, die hier ein provisorisches Domizil finden.