Aufgrund seines Down-Syndroms kann Jan nicht besonders gut sprechen, doch er ist ziemlich selbstständig. Der 25-Jährige lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft und fährt morgens mit dem Fahrrad oder dem Bus zur Arbeit in der Kantine einer Berliner Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Bei den letzten Bundestagswahlen ist er noch wählen gegangen, und auch das derzeitige Berliner Abgeordnetenhaus hat er mit seiner Stimme beeinflusst. Inzwischen haben seine Eltern allerdings die Betreuung für ihn beantragt und unterstützen ihn in rechtlichen Angelegenheiten. Damit hat Jan, obwohl er eher autonomer geworden ist, das Wahlrecht verloren. Er gehört zu den rund 84.000 Menschen, die von der Wahl ausgeschlossen sind.
Jeder deutsche Staatsangehörige da
46;rige darf mit Vollendung des 18. Lebensjahres wählen, so sieht es das Grundgesetz vor. Doch zwei Gruppen von Menschen sind vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Die eine Gruppe umfasst Personen, die in allen Angelegenheiten Betreuung benötigen, also stark körperbehinderte Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, komatöse Menschen nach einer Schädel-Hirn-Verletzung und Menschen mit psychosozialen Problemen. Bei der anderen Gruppe handelt es sich um Menschen die im Zustand der Schuldunfähigkeit eine Straftat begangen haben und in eine Psychiatrie eingewiesen worden sind.Kennst du Frau Merkel?Jan gehört zur ersteren Gruppe. Er kann nicht verstehen, dass er nun nicht mehr wählen gehen darf. „Für ihn ist das sehr wichtig“, erklärt seine Mutter, Christiane Müller-Zurek, die auch in der Berliner Lebenshilfe aktiv ist. „Er bekommt mit, wie seine Eltern und seine Brüder wählen und möchte das auch.“ Beim ersten Mal haben ihn die Eltern gut vorbereitet, ihm erklärt, wie ein Wahlzettel aussieht, er wusste, dass es eine Erst- und eine Zweitstimme gibt. In die Wahlkabine ist er dann alleine gegangen. „Er war damals sehr stolz, wählen zu können.“ Auch bei den 600 Aktionen des Europäischen Protesttags für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen am vorigen Samstag wurde der Wahlrechtsausschluss thematisiert. Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Behinderungen, machte deutlich, dass die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen auch beinhaltet, Menschen, die wegen Behinderung betreut werden, das Wahlrecht einzuräumen. Zwölf europäische Staaten, darunter viele Nachbarländer, haben ihre Wahlgesetze entsprechend geändert. Und obwohl Deutschland schon 2015 von den Vereinten Nationen in Genf in dieser Sache gerügt wurde, lässt sich die Bundesregierung viel Zeit.Dabei haben die Betroffenen in Ulla Schmidt, ehemals Gesundheitsministerin und inzwischen Bundestags-Vizepräsidentin und Vorsitzende der Lebenshilfe, eine starke Verbündete. Wahlrechtsausschlüsse, sagt sie, seien diskriminierend und verfassungswidrig. „Behinderte haben ein starkes politisches Interesse. Die sprechen mich häufig an und fragen zum Beispiel: ‚Kennst du die Frau Merkel?‘“ Jan kennt Angela Merkel aus dem Fernsehen ganz genau. Er ist vor allem an Personen interessiert, in Parteiprogramme, die es mittlerweile auch in leichter Sprache gibt, schaut er nur gelegentlich. Für ihn ist Sympathie entscheidend. Darf das aber ein Grund sein, ihn von der Wahl auszuschließen? Wie viele Wähler wählen einfach „aus dem Bauch heraus“, weil ihnen die Merkel oder eben der Gysi sympathisch ist und haben noch nie ein Parteiprogramm gelesen?Wählen ist ein Grundrecht. Das gilt auch für die 1,3 Millionen Menschen, die rechtlich betreut werden. Nicht alle haben eine geistige Behinderung oder psychosoziale Probleme, sondern sind schlicht alt. An ihrem Wahlrecht hindert sie keiner. Aber was ist von parteinahen Hilfskräften zu halten, die gelegentlich in Altenheimen auftauchen und die betagten Menschen zur Wahl begleiten oder sie beim Ausfüllen ihrer Briefwahlunterlagen unterstützen? Und wer kann schon kontrollieren, wer zu Hause die Briefwahl beeinflusst?Das halten die Lebenshilfe und andere Behindertenorganisationen den Innenpolitikern entgegen, die befürchten, dass das Wahlrecht von Menschen mit Behinderung, die betreut werden, missbraucht werden könnte. Herhalten müssen dabei oft nicht einwilligungsfähige Wachkoma-Patienten, für die dann Wahlunterlagen angefordert werden könnten. „Wenn so etwas passiert“, sagt Müller-Zurek, „wäre das Missbrauch. Dann dürfte es überhaupt keine Briefwahl mehr geben.“ Sie räumt ein, dass auch sie sich am Anfang Gedanken darüber gemacht habe, dass Jan wählen geht. „Aber wie wollen Sie da differenzieren von Fall zu Fall? Es handelt sich um ein Bürgerrecht, und wer es will, soll es auch ausüben können. Wer nicht kann, wird es auch nicht tun.“ Es gebe keine Gewähr dafür, sagt auch Verena Bentele, wie eine Wahl ablaufe.Die Aufhebung des Wahlausschlusses würde auch dem Geist des 1992 geänderten Betreuungsrechts folgen, das der generellen Vormundschaft für erwachsene Menschen mit Behinderung ein Ende setzte. Eine rechtliche Betreuung sei per se überhaupt kein Grund, vom Wahlrecht ausgeschlossen zu sein, so der Tenor der Interessensvertretungen. Die Verbände kritisieren, dass die Wahlfähigkeit im Einzelfall überhaupt nicht überprüft, sondern Betreuung in bestimmten Aufgabenfeldern einfach mit Totalbetreuung gleichgesetzt wird.Ähnlich sieht es auch Müller-Zurek. Es gehe nicht darum, die besonders informierte politische Entscheidung zu beurteilen, sondern um schlichte Teilhabe. „Jan betont, dass er erwachsen ist und Erwachsene bestimmte Rechte haben, also wählen dürfen. Das will er auch.“ In den Einrichtungen unterstützten das die meisten Betreuer. „Bei der Lebenshilfe sind die pädagogischen Betreuer, die keine rechtlichen Betreuer sind, dafür zuständig, Menschen mit Behinderung auf eine Wahl vorzubereiten. Sie gehen mit ihnen ins Wahllokal oder helfen ihnen bei der Briefwahl.“ Unterstützend hat die Lebenshilfe vor den letzten Bundestagswahlen einen Info-Film in leichter Sprache gedreht, der noch immer abrufbar ist.Es fehlt am WillenDie Grünen waren die Ersten, die die Forderung der Verbände mit einem Gesetzesantrag unterstützten. Inzwischen will auch die SPD das Bundeswahlgesetz ändern und deutet auf die Union, die sogar hinter Länder wie Irland oder Spanien zurückfällt. Das Wahlrecht, lässt etwa deren Abgeordneter Reinhard Grindel wissen, sei kein Mittel der Inklusion. Manche Bundesländer sehen das anders. Bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein konnten Menschen, die betreut werden, wählen, und auch in Nordrhein-Westfalen dürfen sie am Sonntag ihre Stimme abgeben. „Wie aber“, schreibt die Lebenshilfe in ihrer jüngsten Pressemitteilung, „erkläre ich diesen Menschen, dass sie bei der Bundestagswahl im September daheim bleiben müssen?“Müller-Zurek ist skeptisch, dass das Wahlgesetz bis dahin noch geändert wird. „Wenn der Wille da wäre, sagen Befürworter im Parlament, könnte man das schaffen.“ Aber wenn sich die Politik nicht bewegt, wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden, bei dem einschlägige Klagen anhängig sind. Bis dahin können die betroffenen Menschen nicht einmal ihren Protest in die Wahlurne werfen wie alle anderen Staatsbürger, obwohl deren Entscheidung nicht unbedingt nachvollziehbarer ist.
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