Zeitreisen sind ein genuin literarisches Genre. Der Reiz fiktiver Gegenwartsfluchten - sei es nun in die Zukunft oder in die Vergangenheit - besteht darin, das Personal mit dem jeweils zeitgenössischen Wissen historische Zeiten durchmessen zu lassen oder Künftiges vorwegzunehmen. Treibendes Movens ist die Neugierde, und der Plot ergibt sich aus der Irrealität der Veranstaltung selbst. Nicht selten werden auf diesen Zeitreisen gesellschaftliche Utopien entworfen: Rückwärtsgewandte Projektion oder vorscheinende Zukunft.
Angesichts solcher Gattungsmerkmale begibt sich der Dokumentarfilmer Volker Heise mit seinem Projekt, eine reale Familie in ein Leben vor hundert Jahren zurückzuversetzen, auf gewagtes Terrain, denn dokumentarische und literarische Authentizität unterscheiden sich grundlegend. Man mag eine ganz normale Berliner Familie in altertümlich anmutende Kleider stecken können; man mag ihnen Handys und Uhren abnehmen; man mag sie auf Schusters Rappen in einen von allen modernen Insignien gereinigten Schwarzwaldhof schicken, mit einem Schwein, ein paar Kühen, Ziegen, Kaninchen und Hühnern und sagen: Jetzt macht mal, "spielt" Vergangenheit und versucht mal zu leben wie unsere Vorfahren 1902. Dass dabei am Ende weder ein voyeuristisches Folklore-Drama mit Bollenhut noch ein Filmdebakel daraus geworden ist, verdanken Heise und sein Team den Boros, die sich auf dieses "Menschenexperiment" eingelassen haben.
Diese Familie war für den Filmemacher, der nicht nur zeigen, sondern erfahrbar machen wollte, wie Menschen vor hundert Jahren in der Abgeschiedenheit eines Schwarzwaldhofes lebten und überlebten, ein Glücksfall. Unter 700 Konkurrenten in einem Casting ausgewählt, könnten Ismail und Marianne und ihre fast erwachsenen Töchter Reya Anna und Sera Emine sowie der Jüngste, Akay Mathias, nicht exotischer wirken: Mit 18 wanderte der promovierte Werkstoffwissenschaftler Ismail aus der Türkei nach Deutschland ein und lebt mit seiner Familie in Berlin. Obwohl Marianne mit dem "Landleben" liebäugelt, ist ihnen die bäuerliche Lebensweise völlig fremd, selbst Berge kennen sie nur von Abbildungen, und das im Schwarzwald gesprochene Alemannisch dürfte anfangs wie chinesisch für sie geklungen haben.
Was für die Familie als Abenteuer beginnt, wird zur existenziellen Erfahrung: Acht Wochen im Sommer und zwei Wochen im äußerst harten Bergwinter wird die Familie auf sich selbst gestellt sein und mit den 1902 üblichen technischen Mitteln den Hof bewirtschaften, ein Kalb auf die Welt bringen, Vorräte anlegen - und die vielen Rückschläge hinnehmen, die ein bäuerliches Leben vor hundert Jahren bereithielt. Sie werden sich daran gewöhnen, mit Tieren im selben Haus zu wohnen, um fünf Uhr aufzustehen, den Herd zu schüren, sich auf ziemlich eintönige Kost einzustellen, nur einmal in der Woche unter primitivsten Verhältnissen zu baden, das eiskalte widerliche Plumpsklo auf dem Balkon zu benutzen, und alle Gänge - oft kilometerweit - zu Fuß zu unternehmen. Das Authentizitätsgebot will es, dass es (außer in Notfällen) kein Telefon gibt, kein Radio oder Fernsehen, keine Bücher und noch nicht einmal ein Musikinstrument. Auch Besucher - etwa das Kamerateam - haben sich an dieses Reglement zu halten.
Die misslichen Wechselfälle lassen denn auch nicht auf sich warten: Die Kartoffelernte ist gefährdet, weil die Pflanzen von der gefürchteten Knollenfäule befallen sind; Ismail holt sich von der ungewohnten körperlichen Arbeit nach wenigen Tagen einen Leistenbruch und statt OP - sie hätte das ganze Projekt frühzeitig beendet, weil die Familie als Arbeitskraft auf ihn angewiesen ist - wird ihm das damals übliche Bruchband verordnet; die einzige milchgebende Kuh hat eine Entzündung, die Milch fällt durch die Prüfung und darf nicht vermarktet werden; die Hühner legen plötzlich keine Eier mehr, und der mühsam hergestellte Frischkäse schimmelt vor sich hin. Schließlich werden Geld und Vorräte knapp, die Vorsorge für den Winter ist gefährdet.
Nach anfänglichem Chaos findet sich die Familie in ihren neuen ungewohnten Lebensstil. Mit unglaublicher Energie, sehr viel Humor und gegenseitiger Unterstützung begegnet sie den täglichen Widrigkeiten. Marianne backt Brot und fürchtet die große Wäsche, Ismail lernt mit der Sense umzugehen und Bäume zu fällen, die Mädchen kämpfen mit Schwein Barney und mit der damals gebräuchlichen Monatshygiene. Vieles lässt sich lernen - doch lässt sich das Erfahrungswissen der Vorfahren vermitteln und das Denken des Jahres 2002 einfach austreiben? Die Versuchsanlage ist notwendig schief, die mentalen Gräben sind kaum überbrückbar.
Nie hätte ein Bauer vor hundert Jahren wegen des Geburtstages einer Tochter beispielsweise versäumt, das Heu einzubringen, so lange das Wetter schön ist. Die Boros wird diese "Sentimentalität" fast ruinieren, denn das Wetter schlägt um, und das dringend benötigte Viehfutter verfault auf der Wiese. Ein Schwarzwaldbauer hätte auch das eigens für diesen Zweck gemästete Schwein geschlachtet, um die Vorratskammer zu füllen - doch Barney ist Ismail ans Herz gewachsen. Der kann sich nicht vorstellen, das Schwein aufzuessen. Schon die Hühner zu schlachten, kostet Überwindung.
Die authentische Simulation stößt dort an ihre Grenzen, wo die Prioritäten von 2002 gesetzt werden oder die Zeit selbst sich in das "Spiel" einmischt, wie auf dem Staufener Markt, wo sich erweist, dass die dürftigen Waren der Boros heutzutage nicht konkurrenzfähig sind. Dass das "als ob" über vier Folgen hinweg dennoch glaubwürdig bleibt, verdankt sich dem "heiligen Ernst" der Boros und einer Kamera, die, gerade indem sie ihre Existenz nicht verleugnet, diskret und nie voyeuristisch wirkt. Als Ismail sich während der Aufnahmen mit Heise überwirft und das Team von "seinem" Hof wirft - im Film nicht festgehalten - sind die Boros im Ernstfall angekommen, sie haben das fremde Leben zu dem ihren gemacht.
Die Dok-Serie hätte damit ihren Zweck erreicht: Riechen kann man die Vergangenheit zwar (noch) nicht, doch so schaut sie aus, so "fühlt" sie sich an - und sie ist, zur allgemeinen Ernüchterung, überhaupt nicht romantisch. Unterschätzt allerdings haben die Boros - und wohl auch das Filmteam -, was "die Vergangenheit" mit den Akteuren gemacht hat - denn es sind fünf veränderte Menschen, die nach Berlin zurückkehren werden. Die Rechenschaft über die menschlichen Folgen des filmischen Experiments steht aus.
Schwarzwaldhaus 1902; am 2., 4., 6. und 9. Dezember jeweils um 21.45 in der ARD
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