Pech gehabt, nicht abgekindert

Pflegeversicherung Während der Streit um "Generationengerechtigkeit" auf Außentemperatur erhitzt wird, geht die rhetorische Abwicklung der Pflegekasse voran

Eines sollte vorausgeschickt werden: Dem Projekt und seinem Urheber gebührt historische Gerechtigkeit. Es war das erste sozialpolitische Unternehmen der Nachkriegsgeschichte, das explizit das System der Bedürftigkeit samt ihrer Nachprüfung aushebelte. Dies ist nicht hoch genug zu veranschlagen, betraf es doch eine Bevölkerungsgruppe, die in besonderer Weise abhängig und wehrlos war und ist: Alte, Kranke, Behinderte.

Zum zweiten nahmen seine Wegbereiter erstmals zur Kenntnis, dass Familienangehörige, das heißt in der Praxis Frauen, nicht "natürlicherweise" dafür zuständig sind, Alte, Kranke und anderweitig Hilfsbedürftige zu versorgen; und wenn, dass dies immerhin symbolischen Geldwert hat. Wenn heutzutage der "Generationenvertrag" zu einem (falschen) Kampfbegriff mobilisiert wird, dann sollte nicht vergessen werden, dass dieser aufgekündigte Geschlechtervertrag - die Tatsache, dass Frauen nicht mehr bereit oder nicht mehr im Stande sind, ihr Leben den Wechselfällen ihrer Familien unterzuordnen - das hiesige Sozialsystem mindestens ebenso in schwere See gebracht hat wie die Deutsche Einheit und die ihr folgenden Konjunkturturbulenzen. In diesem doppelten Sinn ist die von Norbert Blüm eingeführte Pflegeversicherung zu würdigen: Als ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Ob sie, in dieser Form, sozialpolitisch vernünftig und weitsichtig war, steht auf einer anderen Agenda, der sich derzeit (nicht nur) Ökonomen wie Bert Rürup annehmen.

Natürlich kann man sich aus heutiger Sicht fragen, ob es "gerecht" ist, wenn ein hausbesitzender Pensionär mit gut bestücktem Depot oder eine mit Rente und zwei Lebensversicherungen reichlich ausgestattete Witwe die gleiche Leistung aus der Pflegekasse beanspruchen kann wie die 85jährige Rentnerin, die mit ihren 700 Euro eigentlich schon jetzt nicht mehr über die Runden kommt, für die sich aber kein Sozialamt zuständig fühlt und die gewiss nicht in der Lage sein wird, mobile Hilfsdienste oder gar ein Pflegeheim zu bezahlen. Eben diese Frage stellte dieser Tage die Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen, Katrin Göring-Eckart, als sie andachte, die Pflegekasse abzuschaffen - übrigens nicht zum ersten Mal, aber nun erst wirklich wahrgenommen, weil zur gleichen Zeit ein profilsüchtiger Jungpolitiker das politische Thermometer auf die dramatische Außentemperatur erhitzte. Sie findet es "gerecht", dass hilfsbedürftige Menschen mit einem guten finanziellen Polster selbst für ihre Pflege zu sorgen haben; alle anderen könnten über die Sozialhilfe oder die Krankenkasse versorgt werden. Seither macht das böse Wort von der "Erbenschutzversicherung" die Runde.

Die Grünen-Chefin ist damit nicht allein. Von allen Seiten und aus allen Parteien - wenn auch zurückhaltend aus der SPD - wird sekundiert, dass die Pflegeversicherung keine Zukunft mehr hat. Horst Seehofer (CSU) will sie schnellstmöglich in den Krankenkassen aufgehen lassen, um Verwaltungskosten zu sparen. Die Liberalen schwören, wen wundert´s, auf Privatabsicherung. Andere schlagen vor, nur die Pflegestufe I abzuschaffen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband plädiert dafür, die Pflege ausschließlich aus Steuermitteln zu finanzieren. Den etatistisch ausgefeiltesten Anschlag auf die Pflegekasse unternahm vor wenigen Tagen in der FAZ Bernd Raffelhüschen, bekannter Scharfmacher in der Rürup-Kommission: Er will die heutigen Erwerbstätigen mit einem abzuschmelzenden Pflegeversicherungsbeitrag (zur Sicherung heutiger Ansprüche) und zusätzlich mit einer privaten Versicherung (für das eigene Pflegerisiko) in die Pflicht nehmen. Er hält diese Doppelbelastung explizit für zumutbar, weil diese Generation selbst dafür verantwortlich sei, nicht für genügend zahlungskräftigen Nachwuchs gesorgt zu haben. Pech gehabt, nicht abgekindert. Dass dieser "Nachwuchs" derzeit das Arbeitslosenheer stärken und die Kassen zusätzlich belasten könnte, erwähnt er nicht. Heiner Geißler (CDU) dagegen setzt auf Humanimport: Gezielte Einwanderung soll die Sozialkassen auffüllen helfen.

Seltener dagegen sind die Stimmen, die mahnen, dass bei all diesen Prozeduren das Bedürftigkeitsprinzip wieder eingeführt werden soll. Wenn die Leistungen aus der Pflegekasse wegfallen, sind viele der heutigen und künftigen Anspruchsberechtigten wieder auf die Sozialhilfe verwiesen. Der Anteil der Pflegebedürftigen, die das Sozialamt in Anspruch nehmen müssen, ist bereits von anfänglich 20 auf mittlerweile 33 Prozent gestiegen. Der Grund: Die Leistungssätze der Pflegekasse wurden seit ihrer Einführung nie erhöht. Die Etatverwalter der klammen Kommunen werden sich über diesen neuerlichen sozialen Verschiebebahnhof freuen.

Der Hintergrund der ganzen Diskussion ist relativ einfach: Seit 1999, seitdem aus den üppigen Rücklagen geschöpft wird, steigt die Zahl der Anspruchnehmer stetig und werden immer mehr (teurere) Sachleistungen nachgefragt. Entsprechend ist die Pflegekasse ins Minus gerutscht: Mittlerweile 450 bis 500 Millionen Defizit wurden am vergangenen Wochenende hoch gerechnet, wobei anzumerken ist, dass sich die Planzahl offenbar am Ertrag der öffentlichen Wahrnehmung misst; vor kurzem wurde noch mit 400 Millionen gerechnet. Dramatisch genug vorgestellt, kann der "Reformbedarf" nicht mehr angezweifelt werden.

Einfach erhöhen lässt sich der 1995 fest geschriebene Satz von 1,7 Prozent nicht; schon aus politischen Gründen nicht und auch, weil die Pflegeversicherung - obwohl im Rahmen der Gesetzlichen Sozialversicherungspflicht verankert - gar nicht mehr paritätisch finanziert wird. Den Arbeitgebern warf Blüm bei ihrer Einführung den Buß- und Bettag zur Abgeltung vor und halste damit den Arbeitnehmern weitgehend die Lasten alleine auf. Ganz abgesehen davon, dass dem damaligen Minister die schnelle Mark wichtiger schien als die Absicherung künftiger Generationen - 1995 war durchaus absehbar, dass eine nur auf Erwerbseinkommen fußende Versicherungspflicht nicht haltbar sein würde.

Raffelhüschen hat nun vorgerechnet, dass der Beitrag im Jahr 2040 auf 6,4 Prozent steigen müsste, um die steigenden Ansprüche auf derzeitigem Leistungsniveau bedienen zu können. Selbst wenn man einmal unterstellt, dass diese Marge gepokert ist, scheint sie unter anderem Aspekt sehr realistisch: Die Situation in der Pflege, das bestätigen eine Reihe seriöser Untersuchungen, ist dramatisch schlecht, es fehlt an qualifiziertem Pflegepersonal, während das vorhandene vergleichsweise schlecht entlohnt wird. Und der Bedarf steigt in dem Maße, wie die häusliche private Pflege abnimmt; gar nicht zu reden davon, was es bedeutet, wenn die Träger nicht mehr auf billige Zivis zurückgreifen können.

Vielleicht schwebt Minister Clement, wenn er am Wochenende die "Zumutbarkeit jeder Arbeit" bekräftigte, vor, die überflüssigen Arbeitslosen nun in den miserabel entlohnten Pflegebereich abzukommandieren. Voraussehbar würden sich dort eher Frauen verdingen als Männer - und damit in gewisser Weise den alten Geschlechtervertrag reaktivieren. Möglich auch, dass diese schlecht bezahlte und (auch deshalb) wenig renommierte Tätigkeit die von Heiner Geißler geforderten Einwanderer erledigen. Das wiederbelebte "Dienstmädchenprivileg", das Reichen erlaubt, ihre privaten "Putzen" abzusetzen, und die Green Cards für osteuropäische Pflegekräfte lassen ahnen, wohin diese Reise geht. Jedenfalls nicht in eine Gesellschaft, die bürgerversichert ist.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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