Obwohl der Glaube an den "Sachzwang" (und somit an die tragende Rolle von Experten) eine durch und durch deutsche Obsession ist, gibt es zwei Bereiche, bei denen sich das hörige Publikum unversehens in ein eloquentes Fachpodium verwandelt. Geht es um Schule, fühlt sich jeder, ungeachtet seiner Profession, aufgefordert mitzureden. Im anderen Fall ist es die jüngere deutsche Vergangenheit, die zur lautstarken Intervention provoziert. Das ist beileibe kein Zufall, denn beide Male geht es um Schmerzzonen: Im Hinblick auf die Schule sind es die retrospektiv aktualisierten individuellen Zumutungen, die Wiedergutmachung fordern; und was die deutsche Geschichte betrifft, ist der Schaden an der Kollektivseele ohnehin unheilbar. Sonst wäre es kaum verständlich, dass - nach 60 Jahren! - die Publikumsbeschimpfung eines Götz Aly, der die gerade als "Bombenopfer" angekommenen Deutschen aus der Brand- zurück in die Gewinnerzone rückt, so viel publizistischen Löschwassers bedarf.
In einer neuralgischen Zone operierten kürzlich auch die drei Historiker, die von der Birthler-Behörde aufgefordert waren, über den deutsch-deutschen Umgang mit Eliten und Experten im Nachkriegsdeutschland nachzudenken. Dass es dabei keineswegs um einen Wettstreit in Sachen Vergangenheitsbewältigung gehen sollte, sondern darum, "Kontinuitäten und Diskontinuitäten" auszumessen und das "deutsch-deutsche Wechselverhältnis" auszuloten, hatte Moderatorin Gabriele Camphausen in vorauseilend beruhigender Absicht erklärt.
An historisierender Milde fehlte es den Diskutanten denn auch nicht: Konrad Jarausch tauchte das von ihm wiederholt formulierte "Ärgernis", dass Alt-Nazis in der BRD in Schlüsselpositionen gelangen konnten, in verbindliches Lächeln; der am Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Michael Wildt fasste die skandalösen Tatsachen - wie zum Beispiel den Aufstieg des ehemaligen Lódzer Kripochefs Zirpius in die Führung des niedersächsischen BKA - in moderate Anekdoten; und selbst Annette Leo, Mitarbeiterin im Zentrum für Antisemitismusforschung, trug ihre provozierende These, der "stalinistische Antifaschismus" könnte möglicherweise von der nationalsozialistischen Zurichtung der Bevölkerung profitiert haben, ohne Gegenrede vor.
Übereinstimmung herrschte - wenn auch in verschiedenen Tonlagen - darüber, dass bei der Entnazifizierung im Westen "pädagogisch", im Osten "strukturell" verfahren wurde: Hier die Spruchkammer, der "Persilschein" und die Umerziehung, dort das Gruppenurteil gegen Großgrundbesitzer und Industrielle, um dem Faschismus die Basis zu entziehen. Im Westen die Amnestie und das Biotop für Nazi-Juristen, im Osten die ausgestreckte Hand der Partei für die "Mitläufer", so sie sich bußbereit zeigten. Und über die deutsch-deutsche Grenze hinweg die lautlose Rückkehr der unverzichtbar erscheinenden, wenn auch nicht immer stubenreinen Experten, die zum Aufbau des jeweiligen Staates aufgefordert waren. Die Namen der ehemaligen SS-Angehörigen und Belasteten wurden vorsorglich in der Abteilung 11 der Staatssicherheit gesammelt. Je nach Bedarf dienten die kompromittierenden Unterlagen der Erpressung oder wurden im ideologischen Schlagabtausch mit dem Westen eingesetzt; in der moralfreien Zone von Geheimdiensten jedweder Couleur kein Skandal, sondern eher der Regelfall.
Was über Entnazifizierung und "Reedukation", über Entlastungsgeschichten und den Aufstieg von alten Nazis zu wissen ist, hat die Historiographie in den letzten Jahrzehnten minutiös zusammengetragen. Und auch am Lack des offiziellen Antifaschismus der DDR wurde so viel gekratzt, dass es weiterer relativierender Freilegung kaum mehr bedarf. Dass die Veranstaltung am Ende doch am Selbstverständnis des Publikums rührte und es sich nicht mit der ihm zugedachten Rolle stiller Teilhabe begnügte, hing mit einer Frage zusammen, die Michael Wildt aufwarf und die bereits die Alliierten beschäftigt haben mochte: Wie viele Verbrecher verträgt eine Gesellschaft?
Dass das Publikum in der Thüringischen Landesvertretung dabei in erster Linie an das DDR-Erbe dachte, verweist auf die spezifischen Schmerzareale, die die Palliativpolitik auch nach 15 Jahren noch nicht sedieren konnte. Andererseits zeigt die Auseinandersetzung um die Diplomatennachrufe im Auswärtigen Amt, dass wir von historisierender Distanz weit entfernt sind; zumal dort, wo es um große Zahlen geht. Wenn aber, wie Götz Aly vermutet, alle Deutschen, auch die Nachgeborenen, sozialpolitische Profiteure des Nationalsozialismus sind, relativiert sich - gegen die Absicht des Provokateurs - die Schuld, denn wo wäre, gemessen an der großen Zahl, der Richter?
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