Schwere Krankheit ist Grenzerfahrung, das gilt für den individuellen Fall ebenso wie für das kollektive Gedächtnis, und wo sich die damit befassten Aufräumarbeiten nicht medizinisch und sozialhygienisch, sondern symbolisch niederschlagen, wird in glücklichen Fällen daraus sogar Weltliteratur. Susan Sontag verdanken wir die Einsicht, dass dabei jedes Zeitalter seine eigenen Phantasmagorien über die Krankheit entwickelt und bestimmte Krankheitsmetaphern in den Verkehr bringt, gegen die sich zu wappnen ein Akt des politischen Widerstands ist.
Was die Schwindsüchtigen für das neurasthenische Zeitalter um die Jahrhundertwende waren und die Krebskranken für den zerstörerischen Fraß der Überflusszivilisation, hat nun, wie kürzli
ürzlich das FAZ-Feuilleton entdeckte, einen neuen Handlungsort gefunden: Die Krankheit, schreibt Felicitas von Lovenberg, sitze nun nicht mehr in den Körpern, sondern in den Köpfen – mit bemerkenswerter cartesianischer Reminiszenz übrigens, die man sich in den Fürsorgestätten der Hochkultur eben noch leistet.Blutgefäß im GehirnBeiläufige Erwähnung zwischen kleineren und größeren Kult- und Popautoren wie Philip Roth, Stieg Larsson, Wilhelm Genazino oder Sarah Kuttner findet dort auch der Roman der aus Ostdeutschland stammenden Kathrin Schmidt, der als Beispiel für die abgegriffene Formel „Krankheit als Chance“ – in der heutigen Krise wieder auferstanden als politische Tröstung angesichts des blamierten Kapitalismus’ – angeführt wird.Dabei fällt Schmidts Roman mit dem programmatischen Titel Du stirbst nicht">Du stirbst nicht schon deshalb aus der Reihe, weil er eine tief greifende autobiografische Erfahrung verarbeitet: Vor einigen Jahren platzte ein Blutgefäß im Gehirn der Autorin, das ein lebensgefährliches Hämatom bildete und sie lange Zeit außer Gefecht setzte.Dieses so genannte Aneurysma, das auch Schmidts Protagonistin, die 44-jährige Helene Wesendahl niederstreckt, ist Krankheit und Zeichen zugleich. Denn der infolge eines Herzfehlers entstandene Riss im Gehirn zieht nicht nur eine einseitige Lähmung der Gliedmaßen nach sich, sondern katapultiert die Patientin, als sie aus dem künstlichen Koma erwacht, in eine Orientierungs- und Sprachlosigkeit, die auch metaphorisch gelesen werden kann.Zunächst kämpft Wesendahl mit ihrer Angst: Vor dem nahen Tod und vor dem Ausgeliefertsein an eine fremdbestimmte Intensivversorgung, die sie nicht beeinflussen kann. Dazu kommt eine retrograde Amnesie, sie kann sich an nichts mehr erinnern, was vor dem Platzen des Aneurysma passiert ist. Nur mühsam ordnet sie Matthes, der sie täglich besucht und liebevoll umsorgt, als Ehemann ein, die fünf Kinder bleiben zunächst nur Schemen aus einem früheren Leben. Sie spürt, dass Matthes ihr etwas verheimlicht, doch sie kann sich nicht mit ihm verständigen.Vorsichtig sucht Helene deshalb Haltelinien in den abhanden gekommenen Worten. Immer wieder führt eine Situation zu einem Zipfelchen ihres früheren Lebens, das sie zu fassen sucht, sie „übt erinnern“. Doch was sie fühlt, fällt über sie her, sie kann sich nicht ausdrücken, „es“ hat ihr im wahrsten Sinne des Wortes „die Sprache verschlagen“, es bleiben nur Fratzen, „Spuckefallen“ und Situationen, die sie beschämen bei jeder Mahlzeit, jedem Toilettengang und jedem Missverständnis im klinischen Ablauf. Als nicht-kooperativ und unbequem gilt die Patientin, weil sie sich den Routinen entzieht, Diagnosen in Frage stellt, trotz allem auf ihrer Autonomie besteht.Während sich Helene motorisch langsam und von Rückfällen begleitet erholt und das Leben sie wieder einholt, “gräbt sie Kanäle in die Vergangenheit“, nähert sich dem Ungesagten, dem ihr Vorenthaltenen: Dass es da eine Trennung gab von Matthes und eine Frau, in der „ein Kerl“ wohnt, der sie nicht sein will.Den Riss spürenDie Streckübungen mit der Physiotherapeutin führen zu Viola, Maljutka, wie Helene sie nannte, und die Ära, die vor dem Aneurysma liegt. Eine Liebe voller Fragen, Verstörungen, Zumutungen und Zerrissenheiten, die das alte Leben mit Matthes und den Kindern herausfordert und das neue in die Unsicherheitszone rückt. Was Viola an Zurichtung am Körper und als Identitätskrise erlebt hat, wiederholt sich noch einmal angesichts von Helenes Krankheit: „Ich wollte“, sagt Viola einmal prophetisch zu ihr, „den Riss spüren, den das in dir auslöst und hineinfallen“. Es ist dann der Riss im Gehirn, durch den Helene fast aus dem Leben fällt.In einem genau ausbalancierten Zeit- und Szenenwechsel zeichnet Schmidt das (wieder) „zur Sprache kommen“ nach, das der Rekonvaleszentin ebenso wie das einer Vergangenheit, die aus den Falten der Worte gelockt werden muss. Formal funktioniert der Roman spannend wie ein analytisches Drama, sprachlich wirkt er assoziativ, aus jedem erinnernden Schritt gewinnt Helene wortsensibles Neuland und öffnet die Ventile von Schmidts lyrischer Sprachvirtuosität, die mit ihrer psychologischen Genauigkeit eine fruchtbare Allianz eingeht.Manchmal, hat man das Gefühl, reißt die Fabulierlust sie zu sehr mit, manches Thema, das Viola umkreist, wirkt etwas klischeehaft ausgewalzt, und ihrer bekannten Neigung zu Abschweifungen ist die Autorin auch diesmal nicht Herr geworden. Was beispielsweise die Putin-Geschichte soll, weiß nur die Schöpferin allein; das am Ende eingefügte Lenz-Essay dagegen wirkt zumindest als literaturhistorischer Verweis stimmig: Wie der unglückliche Sturm-und-Drang-Dichter geht auch Schmidt „auf dem Kopf“, bis sie wieder auf die Beine kommt. Keine Zu-früh-Geborene. Eine Wiedergeborene mit offenen Wegen.
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