Rote Schlampen

Kindstötungen Was ein rhetorischer Ausrutscher über Einheit und Emanzipation erzählt

Wer hätte gedacht, wie viel sie gemeinsam haben, die vor der Geschichte blamierten Achtundsechziger und die historisch delegitimierte DDR! Ein anhaltinischer Ministerpräsident musste uns mit der Nase darauf stoßen, als er die angeblich ausufernden Fälle von Kindstötungen in Ostdeutschland zum Anlass nahm, über den bedenklichen Wertehorizont der Ost-Frauen zu sinnieren, die - um ihre hedonistischen Urlaubswünsche zu erfüllen - früher in der gynäkologischen Klinik aufgetaucht seien, um sich von ungewolltem Ballast zu befreien. Ihr "leichtfertiges Verhältnis zum Leben" rühre von einer bis heute nachwirkenden Abtreibungspraxis, die als "Mittel der Familienplanung" in der DDR anerkannt gewesen sei.

Natürlich hat nach dem aufbrausenden "Sturm der Empörung" Wolfgang Böhmer pflichtschuldig Abbitte geleistet. Doch rhetorische "Ausrutscher" wirken - mehr als die gezielte Provokation - läuternd auf der politischen Bühne: Da spricht einer aus, was man doch selbst schon vermutet hatte und sich nicht zu sagen traute. Die schüchterne, willige Braut, Sie erinnern sich, die man da ´89/90 "heimgeführt" hat, ist eine Schlampe, die ihre Kinder in Krippen verwahrlosen lässt oder, schlimmer noch, gleich auf dem heimischen Balkon entsorgt.

Ein Narr wäre, der annähme, dieser "Ausrutscher" sei nur der Fauxpas eines ungeschickten Politikers. Dass er Böhmer just in dem Moment entschlüpfte, als sich die Linke anschickte, auf Freiersfüßen im Westen der Republik "anzukommen", ist wahrlich kein Zufall. Wo die "rote Socke" nicht mehr passt, kommt die "rote Schlampe" zum Zuge. Mit dem Linksimport aus dem Osten, so der Subtext, bricht in den wertebewussten, ökologisch geschleuderten und von Ethikpolizisten bewachten Westen die Barbarei ein. Von der, so der wertkonservative Stoßseufzer, setzen sich Gott sei Dank und mit bühnenreifem mea culpa nun auch diejenigen ab, die vor 40 Jahren mit Steinen warfen oder mangels naheliegenderer Möglichkeiten zur Abtreibung nach Holland fuhren. Wie zur Bestätigung, dass gute christliche Erziehung am Ende doch zu späten Einsichten verhilft!

Stumpf bleiben in einer solchen Gemengelage Argumente: Dass Schwangerschaftsabbruch und Kindstötungen tatsächlich nichts miteinander zu tun oder die heute überforderten Frauen nur noch wenig ideologische Ostmilch abbekommen hätten. Dass das statistische Material nicht aussagefähig sei und überhaupt das Ganze ein Problem der verfehlten Einheitspolitik. Wen interessiert das schon?

Dagegen gibt es mediale Bilder und Reden, die sich über den "Schlampen"-Diskurs legen. Anne Will beispielsweise, die sich, in bester Christiansen-Nachfolge, nur dann eine Frauenrunde ins Studio holt, wenn über Kinderkriegen, Kinderbetreuung, Kindergeld und was es an K´s noch mehr gibt, verhandelt wird. Dort ist es, unter dem Vorzeichen "seriöser" Bindungsforschung, dann wieder möglich, ernsthaft darüber zu diskutieren, welch fürchterliche Auswirkungen die Krippe auf die Kleinsten hat und wie sehr sie gerade die Zuwendung ihrer erwerbstätigen Mütter (respektive Väter, so weit sind wir immerhin schon) missen. Erfahrungslose wie Claudia Roth müssen dann daran erinnern, dass auch Nicht-Mütter ein Lebensrecht haben.

Eine neue Sehnsucht nach der Form, der Einfassung, bricht sich Bahn. Der allenthalben aufblühende Wertekonservativismus geht Hand in Hand mit einer einzigartigen kollektiven Anstrengung, Vergangenheit zu erledigen und damit alle gesellschaftlichen Alternativen, egal, ob sie auf harter sozialistischer Erde oder dem unterm Pflaster liegenden Sand gesät worden sind. Doch nicht ein Irrtum blamiert das Experiment, sondern es blamieren sich die, denen der Mut zum neuen Versuch fehlt.

Die DDR-Kinderkrippe und die Kinderladenbewegung, um bei den K-Angelegenheiten zu bleiben, mögen nichts gemeinsam gehabt haben, außer dass sie den Druck von den Familien nehmen wollten. Das mag in beiden Fällen nicht immer besonders gut gelungen sein. Aber verheerender ist der Erfolgsdruck, der heute auf Familien lastet. Die Mütter (vor allem die) müssen perfekter sein als früher, um genau die perfekten Kinder in die Welt schicken zu können, die man dort erwartet. Und es soll dabei nichts vergeudet werden an Ressourcen - obwohl doch das ganze System eine gigantische Vergeudungsmaschine ist, vorab an Menschen.

Auch deshalb das Tremolo über überforderte, leichtfertige oder wertblinde Frauen - und auch hier kein Zufall, dass von den Vätern, die sich aus dem Staub machen, ihre Kinder prügeln oder Schlimmeres, nicht die Rede ist. Schon die einstige DDR hatte der Westen paternalistisch "in Obhut" genommen und ihr dann den kapitalistischen Prügel gezeigt; nun also gilt es, den dort "verwahrlosenden" Nachwuchs zu retten.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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