Der Freitag: Die Diskussion um die Sicherungsverwahrung ist in eine neue Runde gegangen, nachdem das Bundesverfassungsgericht zumindest teilweise dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefolgt ist. Müssten die Betroffenen nun nicht freigelassen werden?
Helmut Pollähne: Zunächst hat das Bundesverfassungsgericht Übergangsfristen mitgeliefert, innerhalb derer der Gesetzgeber die von ihm gemachten Vorgaben erfüllen muss. Erst wenn Ende Mai 2013 diese Frist ergebnislos abgelaufen ist, stellte sich die Frage der Entlassung. Meines Erachtens ist die Karlsruher Entscheidung aber auch missverstanden worden. Man hat nicht die Sicherungsverwahrung abgeschafft, sondern nur festgestellt, dass die Praxis nicht in Ordnung ist und sich verändern muss. Das wirklich Skandalöse daran ist, dass man das schon seit mindestens sieben Jahren weiß und nichts passiert ist. Davon abgesehen gehe ich davon aus, dass sich auch nach Ablauf der Frist in knapp zwei Jahren nicht viel geändert haben wird. Es wird weiterhin Sicherungsverwahrung geben und möglicherweise werden sogar noch mehr Menschen von dieser Maßnahme betroffen sein. Wir hatten Mitte der neunziger Jahre einmal 180 Menschen in Sicherungsverwahrung, heute sind es mehr als 500, mit steigender Tendenz.
Ist der Gesetzgeber aber nicht aufgefordert, die Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern zu schützen?
Das Verfassungsgericht hat mehrfach deutlich gemacht, dass die Gesellschaft vor besonders gefährlichen Wiederholungstätern zu schützen ist. Gerade deshalb geht es in der offiziellen Diskussion auch gar nicht um die Abschaffung der Sicherungsverwahrung.
In der derzeitigen Debatte, scheinen notorische Sexualstraftäter das Problem zu sein.
Wir haben es in der Sicherungsverwahrung tatsächlich mit einem wachsenden Anteil von Sexualstraftätern zu tun – meist in Zusammenhang mit Gewalt, manchmal auch mit Fällen von schwerem Kindesmissbrauch. Es werden aber auch ganz „normale“ Gewalttäter in Verwahrung genommen, etwa bei schweren Raubdelikten. Erst mit den letzten Gesetzesänderungen aber wurde dafür gesorgt, dass Leute, die Straftaten ohne Gewaltanwendung begehen, seit Anfang des Jahres nicht mehr in
Sicherungsverwahrung geraten können.
Worin besteht der Unterschied zwischen der mittlerweile für Unrecht erklärten nachträglich angeordneten und der vorsorglichen Sicherungsverwahrung?
Die im Urteil festgestellte besondere Gefährlichkeit über die Strafverbüßung hinaus und die darauf folgende Sicherungsverwahrung gibt es schon seit 1934. Im Laufe der Haft wird überprüft, ob sie vollstreckt werden muss und für wie lange, doch es steht fest, dass die Sicherungsverwahrung droht. Bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist das völlig offen, der Straftäter weiß nicht, was ihn erwartet. Diese Maßnahme hat der EGMR und ihm folgend nun auch das Verfassungsgericht als Verletzung der Menschenrechte verworfen.
Aber kann man eine besondere Gefährlichkeit überhaupt vorhersagen?
Darüber streiten sich seit Jahrzehnten die Fachleute. Über diese Unsicherheiten hilft man sich hinweg, indem man hohe Maßstäbe anzulegen bestrebt ist: Die Prognose soll besonders sicher sein, von zwei Gutachtern gestellt werden usw. Als Wissenschaftler habe ich erhebliche Bedenken, dass man im Einzelfall so sichere Prognosen überhaupt treffen kann. Untersuchungen haben gezeigt, dass viele angeblich gefährliche ehemalige Straftäter nach ihrer Freilassung völlig unauffällig waren.
Sie sind also ganz generell gegen Sicherungsverwahrung?
Ja, ich halte sie aus den besagten Gründen rechtsstaatlich für nicht vertretbar. Wir wissen statistisch, dass es einen gewissen Prozentsatz von Entlassenen gibt, die weiterhin erheblich straffällig werden, aber man weiß eben nicht, wer das ist. Diese harte Präventionsmaßnahme läuft letztlich darauf hinaus, dass man eine ganze Reihe von Leuten, die nie im Leben wieder eine so schwere Tat begehen würden, vorsorglich einsperrt, um einige Wenige davon abzuhalten, wirklich rückfällig zu werden.
Es waren die Nazis, die die Sicherungsverwahrung 1933 eingeführt haben.
Diese historische Last besteht, denn das Gesetz wurde vor 1933 aufgrund rechtsstaatlicher Bedenken, die die Nazis dann über Bord warfen, nicht eingeführt. Natürlich wäre es schön, die Gesellschaft vor potenziellen Wiederholungstätern schützen zu können, aber diesen Wunschtraum kann man mit rechtsstaatlichen Maßnahmen nicht umsetzen, weil es das Unrecht gegen Unschuldige und Ungefährliche einschließt. Ich weiß, dass es in der öffentlichen Diskussion schwer zu vermitteln ist, dass der Rechtsstaat Rückfalltaten in Kauf nehmen muss.
Die Verfassungsrichter sehen insbesondere das Abstandsgebot zwischen Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten verletzt. Ein neues Therapieunterbringungsgesetz soll dem abhelfen.
Das Therapieunterbringungsgesetz hat man erfunden, um bestimmte Betroffene, die man aus der Sicherungsverwahrung entlassen müsste, weil sie mit den Menschenrechten nicht vereinbar ist, eingesperrt zu halten. Ich bin nicht der Einzige, der sagt, dass es sich dabei um einen Etikettenschwindel handelt. Letztlich ist auch das Therapieunterbringungsgesetz mit den Menschenrechten nicht vereinbar. Das Mindeste wäre, dass man die Betroffenen nicht einfach in eine andere Art von Justizvollzug steckt, sondern ihnen, zum Beispiel durch Behandlungsangebote, realistische Entlassungsperspektiven eröffnet.
Ihr Kollege Johannes Feest prognostiziert, dass die Umsetzung solch weitreichender Forderungen einen Aufstand der normalen Gefangenen nach sich ziehen könnte. Eigentlich müsste doch auch wieder über den normalen Strafvollzug gesprochen werden?
Da kann etwas dran sein. Das, was die Verfassungsrichter für die Sicherungsverwahrten erfüllt sehen wollen, sind ja Forderungen, die schon lange an den normalen Strafvollzug gestellt werden. Möglicherweise kann man die Debatte fruchtbar machen. Da jedoch der Abstand bestehen bleiben soll, müssten Verbesserungen im normalen Strafvollzug mit einer Niveauanhebung in der Sicherungsverwahrung einhergehen, das könnte zu einem kuriosen Kreislauf werden. Ich bin mir nicht sicher, ob das zu Ende gedacht ist.
Helmut Pollähne ist Privatdozent am Institut für Kriminalpolitik und Rechtsanwalt in Bremen. Er ist Mitglied im Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie
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