Da hat uns der Kultursnobismus doch ein Schnippchen geschlagen. Sonst hätten wir zwei Tage vor Silvester Zeuge werden können wie die Cárdásfürstin mit einem kopflosen Soldaten aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs über die Semperbühne walzt und den "Abonennten-Mob", wie ich später in der Zeitung lese, zum Ausrasten bringt. Aber Operette? Schaudernd hatte ich mich am Nachmittag von dem Pappschild in der "Fressgass" abgewandt, auf dem noch Restkarten feilgeboten wurden. Semperoper und Operette? Igitt!
Also müssen wir mit Le Noze di Figaro vorlieb nehmen. Wahlweise auch Romeo und Julia, Erlkönig oder, für den proletarischeren Geschmack, den Hauptmann von Köpenick. Letzterer hat sich aus Berlin ins tiefe Sachsen verirr
r hat sich aus Berlin ins tiefe Sachsen verirrt und entpuppt sich als schnöde Kalbsleber mit Apfel- und Zwiebelringen. In Dresden goutiert man nämlich nicht einfach italienische Makkaroni, einen bunten Salatteller oder Kaninchenrücken im Speckmantel mit Mangoldgemüse, sondern Musik, die durch den Magen geht. Jedenfalls in einem Etablissement, das sich Applaus nennt, und mit einer Zeitung als Speisekarte begrüßt, exklusiv nur für das Hilton Dresden. Als wir das merken, ist es schon zu spät, und das von mir georderte "Bunte Gewimmel" macht seinem Namen alle Ehre und poltert nächtens durch meinem Magen.Die "Fressgass" heißt natürlich nicht so, sondern wird von mir so genannt, weil dort die Ströme der Bustouristen abgefüttert werden, die sich tagtäglich durch die Dresdner Altstadt wälzen. Über die kulinarischen Niederungen, denen man dort begegnet, kann man sich nur halbwegs mit ästhetischen Höheflügen in der Gemäldegalerie oder im Albertinum hinwegtrösten. Im Café Schinkelwache beispielsweise wird man schichtweise gelegt und mutiert alsbald zur Eierschecke. Wer's allerdings mit DDR-Nostalgie hat, sollte in die Dresdner Neustadt gehen. Dort, haben wir festgestellt, verabreicht man noch ehrliche "Sättigungsbeilagen".Der drittletzte Tag des Jahrtausends kann sich zwischen Regen und Schnee nur schwer entscheiden, und die Brühl'sche Terasse lädt nicht ein zum Verweilen. Wir haben an diesem Tag bereits eine Odyssee hinter uns. Individualisten buchen nicht pauschal und glauben an den Hotelgott. Vor allem, wenn der mit klingenden Namen aufwartet wie Terrassenhotel, worunter man sich doch eine romantische Anlage über der Elbe vorstellt, mit Springbrunnen und Sprungfedermatratzen. Nachdem wir die Plattenbauten in der Prager Straße als unwürdig verworfen haben, promenieren wir also übers Terrassenufer auf der Suche nach der lauschigen Herberge. Durchfroren und mit nassen Füßen bin ich bereit, jeden Preis zu zahlen.Was stimmt, ist die Elbnähe, da kann man nicht meckern. Ansonsten präsentiert sich der Bau im Stile von Ibis oder Mercure. Eine gigantische Touristenwohnschachtel mit winzigen Schüben. Indiskutabel. Schwer enttäuscht retten wir uns in die nächstgelegene Kneipe, die wegen der Korbstühle heimelig wirkt. Der Eintopf verspricht fünf verschiedene Fleischeinlagen, von denen keine einzige genießbar ist. Als besondere Attraktion preist die Speisekarte Klapperschlangenfilet für 79 Mark. Zwei Tage rätseln wir, ob die Reste des Reptils in meiner Suppe gelandet sind. In der Fremdkörper-Ausstellung im Hygienemuseum lerne ich an diesem Nachmittag außerdem, dass die Kannibalen nur ihre Feinde fressen, und Kulturmenschen hatten sie offenbar "zum Fressen gern".Am Ende haben wir Glück in der Malaise. Die freundlich sächselnde Dame vom Informationsservice beweist geschulten Touristenblick, als sie uns in das erste deutsche Nichtraucherhotel in der Dresdner Neustadt verschickt. Eine "gleine Anlaache", verspricht sie. Immer noch skeptisch fahnden wir vor dem Hauptbahnhof nach einem Taxi. Berlinverwöhnt glauben wir, nur den Finger in den Wind halten zu müssen, doch Taxis sind in der sächsischen Hauptstadt offenbar eine Rarität. Endlich kommt eins. Von einem Nichtraucherhotel hat die qualmende Chauffeurin noch nie was gehört, doch sie zeigt sich willig. Einem Telefonat entnehmen wir, dass sie an dem Tag schon einen kleinen Überfall hinter sich hat.Irgendwann landen wir dann im Waldschlösschenviertel. Eine "gleine Anlaache", da hat uns die Dame vom Touristenbüro nichts Falsches versprochen. Der Inhaber ist stolz auf das "Nichtraucher"-Patent, das ihm Gäste aus den Staaten garantiert. Auf die romantischen Springbrunnen, die sich irgendwie in meinem Kopf festgesetzt haben, muss ich auch hier verzichten, doch in einer Kulturhauptstadt, in der der Stadtkämmerer kürzlich den Kulturnotstand ausgerufen hat, muss man sich bescheiden. In dieser Metropole kulinarischer Absonderlichkeiten sind wir schon glücklich, zum Frühstück nicht den Kopf jenes Soldaten serviert zu bekommen, den das Semper-Publikum am Vortag so schmerzlich vermisste.