Jeden Abend zur Tagesschau-Zeit „erreicht die Krise“ einen neuen Unternehmenskontinent: Nachdem sie US-Immobilien überspült und Banken mitgerissen hat, brechen die Wogen mittlerweile über der Industrie zusammen und fegen mit mehr oder weniger Gewalt über die Beschäftigungsmärkte. In der öffentlichen Wahrnehmung einem unaufhaltsamen Tsunami gleich, erreicht die Welle nun auch die deutschen Sozialsysteme – bislang noch ein Fels der Stabilität im Strom der dahinschwindenden Werte.
Dass dieses mögliche neue Flutopfer vergleichsweise spät in den publizistischen Verhandlungsraum gerät, hat objektive und subjektive Gründe. Zum einen schlägt die über Kurzarbeit noch abgefederte Jobkrise verzögert und mit un
und mit unterschiedlichen Wirkungen auf die Sozialversicherung durch. Zum anderen ist zumindest der Koalition kurz vor den Wahlen wenig daran gelegen, neue Rettungsschirme aufzuspannen. Es gibt aber auch Wellenreiter, die mit einigem Interesse den Wind verstärken: War es in den vergangenen Rezessionen nicht gelungen, den Sozialstaat sturmreif zu schießen, so könnte die Krise ihn nun hinwegspülen, ohne dass jemand dafür in Haftung genommen werden kann.Am schnellsten wird die Arbeitslosenversicherung in einen Finanzstrudel geraten. Im Oktober geht der Nürnberger Bundesagentur voraussichtlich das Geld aus, sie wird beim Bund betteln gehen müssen. Nun rächt sich schnell die Beitragssenkung zu einem Zeitpunkt, als die Krise hierzulande längst angekommen war. An eine Beitragserhöhung denkt SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz bis 2011 nicht – vorausgesetzt, dass er so lange darüber zu entscheiden hat.Eine derartige Maßnahme wäre für die Pflegeversicherung überhaupt nicht durchsetzbar, nachdem die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die Versicherten mit der Reform 2008 schon kräftig abkassiert hat. Doch die Pflegekasse, die weder über nennenswerte Rücklagen verfügt noch auf Bundeszuschüsse hoffen kann, ist auf laufenden Zufluss dringend angewiesen. Wenn ihre Einnahmen sinken, torkelt sie schneller als etwa die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV).Für diese könnte nämlich, welch politische Ironie, der Gesundheitsfonds zu einem vorläufigen Schutzschirm werden. Bis einschließlich 2010 garantiert der Bund Einnahmeausfälle, bis mit den fälligen Rückzahlungen das böse Erwachen beginnt. Über die Höhe des Defizits sind sich die Experten uneins, drei Milliarden Euro sollen sich angesammelt haben. Je 100.000 Arbeitslose schlagen mit einem Minus von 70 Millionen Euro zu Buche; bei derzeit 500.000 Kurzarbeitern dürfte sich für die GKV also schnell das nächste Milliardenloch öffnen. Ende April wird der Schätzerkreis über das Finanzdebakel der Kassen Auskunft geben, aber kaum Licht in die Verhältnisse bringen können: Denn wie viel Defizit auf das Konto des ungeliebten Gesundheitsfonds geht und was die Folge des Beschäftigungsrückgangs ist, wird nicht mehr säuberlich zu trennen sein. Für die Erfinder des Fonds ein Glücksfall: Wenn es schief geht, kann auch hier „die Krise“ in Schuldhaft genommen werden.Dagegen sei „die Rente sicher“, beteuert Scholz und erweist so Norbert Blüm späte Reverenz. Noch verzeichnet die Rentenkasse tatsächlich keinen Einbruch, bringt es im ersten Quartal 2009 sogar auf ein Plus von 2,1 Prozent und erfreut sich einer Rücklage von knapp einer Monatszahlung. Doch die aktuelle Lage trügt. Denn die beruhigten Rentner, die schon nächstes Jahr keine Erhöhung zu erwarten haben, werden die Inflation zu spüren bekommen. Und die künftigen Rentner werden unter dem Beschäftigungsrückgang leiden, der sich negativ auf die Rentenformel auswirkt. Ganz abgesehen von den Verlusten, die die Lebensversicherer an ihre Kunden weitergeben werden. Schon die Überschusszuweisungen des vergangenen Jahres stammen aus aufgelösten Rückstellungen.Die nimmer belehrbaren freidemokratischen Politiker-Eleven – vom niedersächsischen Wirtschaftsminister Philipp Rösler über den nordrheinwestfälischen General Christian Lindner bis hin zum gesundheitspolitischen Dauerredner Daniel Bahr – strampeln heftig in ihren Bassins, um die Woge, die über den Sozialstaat hingehen soll, aufzupeitschen. Seit’ an Seit’ mit den Arbeitgeberverbänden, die ihre Forderungen gerade in einem Memorandum abgeliefert haben, sehen sie endlich die Chance, die Kranken- und Pflegeversicherung von den Arbeitskosten abzukoppeln, sprich, die paritätische Sozialversicherung zu kippen. Und, auch das eine politische Ironie, manche Grundeinkommensforderung leistet dabei ungewollt noch Schützenhilfe.Es wäre schon ein Fortschritt, erinnerte man sich daran, dass Naturmetaphern, auf soziale Verhältnisse überstülpt, ideologisch sind. Natur- und ökonomische Katastrophen haben in ihren Auswirkungen immer eine soziale Komponente: Wer schnell flüchten kann, sitzt auf dem Trockenen. Wer aber von sozialen Transfers abhängt oder die Zahnarztrechnung nicht mittels Zusatzversicherung abwälzen kann, dem ist es egal, ob sich der Kapitalismus am Ende neu gebiert. Der Sozialstaat bietet momentan die einzigen Säulen, die das auseinanderdriftende Gemeinwesen noch zusammenhalten. Es ist überlebenswichtig, ihn unter Schutz zu stellen.