Schweizer Lektion

Einwanderung Die EU gerät durch den Volksentscheid der Schweizer ins Wanken. Die Angst vor Fremdheit ist keine Spezialität der Eidgenossen
Ausgabe 07/2014

Würden Horst Seehofer und so mancher Wer- betrügt-fliegt-raus-Politiker gerade in der Schweiz weilen und überhaupt jemals mit der Tram fahren, könnten sie hier eine Erfahrung fürs Leben machen. Während man als Deutscher im eigenen Land höchstens einmal distanzierte Empathie mit Asylsuchenden oder Zuwanderern demonstrieren und dabei sicher sein kann, nie in ihre Situation zu kommen, sitzt man wie ich derzeit jeden Morgen in der Zürcher Tram neben schwarzen Einwanderern und sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen und hat spätestens seit vergangenem Wochenende das Gefühl: Auch ich bin gemeint. Man will mich hier nicht. Für Deutsche eine seltene und durchaus lehrreiche Lektion.

Es war ein regelrechter Vorabendkrimi mit am Ende fast 1,5 Millionen Tätern. Die von der Schweizerischen Volkspartei forcierte Initiative gegen Masseneinwanderung hat einen hauchdünnen Sieg davongetragen und das Verhältnis zwischen dem kleinen eingequetschten Alpenstaat und dem EU-Massiv in eine gefährliche Lage gebracht. Schon wird in der Schweiz ausgerechnet, dass die Sozialversicherung ins Minus rutschen könnte, wenn der Zuzug von außen kontingentiert wird. Drei Jahre hat die Berner Regierung nun Zeit, irgendetwas aus dem Plebiszit, das seit der Absage zum EU-Beitritt 1992 das dramatischste Ereignis der Schweizer Außenpolitik darstellt, zu zimmern.

„Personenfreizügigkeit“ ist die Losung dieses Rütli-Schwurs auf beiden Seiten. 1,825 Millionen Ausländer, darunter 300.00 Deutsche, fast so viele Italiener, außerdem Flüchtlinge aus aller Welt, leben in der Schweiz. Schon diese Aufzählung offenbart die Janusköpfigkeit des Gemeinten, Menschenrecht und ökonomischen Vorteil. Stadtluft macht frei, war einmal der Lockruf an die Geknechteten in den Zeiten deutscher Kleinstaaterei; Grenzen ohne feudale Beschränkungen war die Verheißung des Handel treibenden Bürgertums.

Herrenhaus Europa

Daran hat sich auch im 21. Jahrhundert nicht allzu viel geändert: Die einen suchen ihr Glück jenseits der Heimat, die anderen wollen einfach nur ungehindert ihr Zeug verticken. Nur dass sich die Grenzen ausgedehnt haben, brutal abgeschottet nach außen und mit diesem bergbewehrten Kleinod in ihrem Innern, in dem lange Zeit die Schatullen der Besitzenden gehütet wurden. Dass diese Abstimmung und die Hebung der versteckten Pfründe zeitlich zusammenfallen, ist gewiss kein Zufall. Da ist viel Trotz im Spiel.

Nun kommt das Herrenhaus Europa etwas ins Wanken. Aber nicht so, wie es sich Feministinnen und Linke vor Jahrzehnten bei seiner Einsegnung wünschten, sondern ganz dumpf und auf Betreiben heftiger Rechtsausleger. Die Brüsseler Verwalter erleben nun das Volk – nicht mehr nur das revoltierende, das aufständige, das „mehr Demokratie“ fordernde in Spanien oder Griechenland, sondern das ängstlich-kleinmütige. Der Haken kommt nun ausgerechnet von einer grundständigen europäischen Demokratie, und ganz egal, ob man das, wofür votiert wurde, richtig findet: Es ist genau die Demokratie, mit der Europa so elend in Verzug ist. Wer heute mit erhobenem Finger auf die Schweiz zeigt, sollte sich fragen, wie eine solche Abstimmung im eigenen Land ausgehen würde. Angst ist keine Schweizer Spezialität, und wo Großes entsteht, muss das Kleine gepflegt werden.

Europa hat billige Butter versprochen und einen überall gültigen Taler, den Wegfall der Grenzen und die Freizügigkeit. Das Versprechen wurde mit viel ökonomischem Sinn gefüllt, nicht mit gefühligem. Die Begegnung der Menschen in Europa ist eine der Äquivalente, nicht der Herzen, um es pathetisch zu sagen. In der Schweiz erhoffen die Einwanderer bessere Lebenschancen, während die Schweizer jedes Wochenende Konstanz oder Lörrach leer kaufen. Der Dichtestress nimmt diesseits und jenseits der Grenze zu. Das jedoch war nicht der Sinn der europäischen Idee. Ihre Stärke lag im Kosmopolitismus, nicht im schnöden Handel oder in fragwürdigen Verteidigungsbündnissen.

Hurra-Rufe der Rechten

Dass selbst dem einst bewegten grünen Europa-Spitzenkandidaten Sven Giegold auf das Schweizer Votum nichts Besseres einfällt als Drohungen – er fordert stärkeren Druck auf Bern, um das Bankengeheimnis zu kippen und das Steuerdumping zu stoppen –, zeigt, dass nicht nur die Schweizer Bürger überfordert sind, wie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz meint, sondern auch die Politiker in Brüssel.

Überfordert auch angesichts der Hurra-Rufe der europäischen Rechten – und der heimlichen Akklamateure in den eigenen Reihen, heißen sie nun Volker Kauder oder Wolfgang Bosbach, die ja ebenfalls den „ungezügelten Zustrom von Menschen“ nach Deutschland verhindern wollen. AFD-Chef Bernd Lucke hat Letzterem gerade den Parteiaustritt nahegelegt und ihm ein Willkommen garantiert.

Völlig unabhängig davon, wie sich die Schweiz mit der EU am Ende einigt – und ihr wird nichts anderes übrig bleiben, will sie nicht als europäisches Bergdorf in der Bedeutungslosigkeit versinken –, hat der plebiszitäre Präzedenzfall rechten Europakritikern ein Erfolgsmodell beschert. Der Härtetest kommt mit den Europawahlen. Sie werden zeigen, ob sich der Schweizer Trotz in andere Länder fortpflanzt. Dann hat Europa tatsächlich ein Demokratieproblem.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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