Überlebensfabrik Familie

Schwundstufe Im Eisschrank ist schlecht leben oder was sich aus dem demografischen Dauerbeschuss lernen lässt

Wenn sich im nächsten Monat die Katastrophe von Tschernobyl zum 20. Mal jährt, werden sich viele von uns auch daran erinnern, wie schwierig es war, Kinder vom Sandkasten fernzuhalten oder ihnen zu erklären, warum sie keine Waldbeeren mehr pflücken sollten. Wer es sich leisten konnte, setzte sich mit den jüngeren Kindern auf die Kanarischen Inseln ab, um dem gefährlichen Fall Out zu entgehen. Tschernobyl war die Inkarnation all jener Untergangsszenarien, die im Jahrzehnt zuvor beschworen worden waren: Im strahlenden Super-Gau schienen militärische Bedrohung, ökologischer Kollaps und das Erbe des Sozialismus auf, mit dem technologischen Urknall war das Ende der Geschichte eingeläutet.

Das damalige Gefühl, die Zukunft verloren zu haben, erlebt in deutschen Breiten in diesen Wochen eine alarmierende Renaissance: Was Bombe, Klimawandel, Energiekrise oder Verkehr (noch) nicht vermocht haben - uns ins existentielle Nichts zu katapultieren -, haben wir, so dräut es landauf, landab, nun selbst erledigt: Zu wenig Nachwuchs, zu wenig Liebe, zu wenig Kinder, die für unser drittes Gebiss, das künstliche Hüftgelenk und die tägliche Streicheleinheit aufkommen wollen. Keine Kinder, keine Rente, keine Zukunft. Bis in alle Ewigkeit - oder zumindest die nächsten Jahrzehnte, wie uns das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gerade wieder auf bunten Karten vorgerechnet hat - sind wir zu einer Existenz im Minimum, einem Leben auf Schwundstufe verdammt! Seither erlebt das Boulevardstück "Kindermangel und egoistische Gesellschaft" (Spiegel) eine Wiederholungsvorstellung: Ältere Sorgenfalte wettert gegen jüngere Gebärstreikzicke und/oder ältere Abtreibungshexe; Eltern beschwören Kinderglück, und eine ungewohnt defensive Alice Schwarzer muss sich bei Maybritt Illner von Norbert Geis (CSU) an den Pranger stellen lassen, sie habe mit ihrer Abtreibungskampagne für den bevölkerungspolitischen GAU gesorgt.

Die Katastrophenvorlage für das Drama hat bekanntlich Frank Schirrmacher geliefert. Nachdem trotz nachdrücklicher Propaganda seine Methusalems keine Anstalten machen, sich gegen die Jungen zu verbünden, hat sich der trennungsgeschädigte Demografiebeauftragte nun auf die andere Seite geschlagen und in einer Art "Reflections in the Fridge" die demografische Erkältung von 2050 durchgespielt. Als Vorbild dient ihm die Schicksalsgemeinschaft eines amerikanischen Siedlertrecks, die im Jahre 1846 auf dem Donner-Pass im Schneesturm stecken blieb und monatelang auf sich selbst geworfen war. Viele der allein reisenden Männer, obzwar kräftig, mutig und ballastfrei, seien in dieser Tragödie umgekommen, während die großen Familien aufgrund des praktischen und emotionalen Networkings der Frauen eine größere Chance hatten und überlebten. Aus diesem historischen Ereignis, das im übrigen nur rudimentär überliefert ist, interpoliert Schirrmacher ein biologisches "Gesetz": Familien seien "Urgewalten". Wer sich an ihnen vergeht oder sie zerstört, tut dies bei Strafe des Untergangs. Denn einzig die Familie, sagt Schirrmacher, knüpft Überlebensnetzwerke, handelt selbstlos und erzeugt jene "moralische Ökonomie", die das Überleben der Gemeinschaft sichert.

Da haben wir es: Nicht genügend vorgesorgt, zu wenig Familiensinn, zu wenig "Blutsverwandte". Wir werden alt aussehen in unserem selbstgezimmerten Eisschrank, der vielleicht Nahrung und Kleidung bereithält und unwirtliche Wohnstatt ist, aber sonst wenig gegen die "Minusgrade des Lebens" zu bieten hat. Schuld an dem ganzen Drama ist, dass wir zu viel arbeiten: Liebe nämlich "begünstigt Geburten, Arbeit vereitelt sie", glaubt Schirrmacher. Nun scheinen "Liebe" und "Ehe" ja nun gerade nicht den erwünschten Kindersegen zu befördern; und gelegentlich ist Liebe auch mit Arbeit verbunden, Wäschewaschen, Kindernasen putzen zum Beispiel. Wir wollen Schirrmacher zunächst einmal so verstehen, dass die auf dem Arbeitsmarkt überstrapazierten Frauen und Männer einfach keine Zeit fürs Kindermachen und vor allem -aufziehen finden, um all die familiären "Netzwerke" zu installieren.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Schirrmacher meint nämlich gar nicht Männer und Frauen, sondern Frauen. Frauen sind die exklusiven "Beziehungsarbeiterinnen", wie er von den Hirnforschern erfahren hat. Wer noch davon ausgehen sollte, dass Männer und Frauen gleich seien, ist hoffnungslos out. Wie schon im Tierreich vererbt sich nämlich soziale Intelligenz von den Müttern auf die Töchter, und das weibliche Gehirn (von ein paar "Ausnahmen" abgesehen) ist nun mal auf Empathie gepolt. Deshalb tragen die Frauen - wie in der Eiswüste am Donner-Pass - die Familien. Von ihnen hängt ab, ob das Land "demografisch vergletschert" und wie man den demografischen Kälteschock übersteht: "Die Natur setzt aufs ewig Weibliche"!

Wer "die Natur" aufruft, kann halt bloß "Ewiges" finden. Wer Katastrophen malt, muss an "Urinstinkte" appellieren, um für den Durchmarsch zu blasen. Wenn aber Frauen aufgerufen werden, ob ihrer "besonderen" Fähigkeiten existentielle Krisen zu bewältigen, sollten sie hellhörig werden und das Weite suchen. "Die Glorifizierung des weiblichen Charakters schließt die Demütigung aller ein, die ihn tragen." So gedrechselt wusste das nur Adorno auszudrücken, doch die Botschaft ist klar: Frauen, lasst euch nicht zur Ausputzerin der Nation machen! Und schon gar nicht unter Rechtfertigungsdruck setzen.

Denn ein Effekt des publizistischen Kanonenfeuers ist, dass frau sich neuerdings für Kinderlosigkeit entschuldigen muss. Die Umstände, die Arbeitsbedingungen, ein flüchtender Partner, die geringen Ressourcen, der Mangel an Betreuungsplätzen - Gründe gibt´s viele, warum sich Menschen gegen Kinder entscheiden. Die Politik hätte ihrerseits dafür zu sorgen, das gesellschaftliche Umfeld kinderfreundlicher zu gestalten. Aber wer gibt der Politik (oder den Bestandsverwaltern des "deutschen Bluts") das Recht, Kinderlosigkeit zu verfemen? Wer nicht für den demografischen Bestandserhalt gesorgt hat, muss offenbar mit symbolischer und materieller Bestrafung rechnen. Kein Kind? Mehr Pflegebeitrag. Kein Kind? Rente halbiert. Kein Kind? Pflichtdienst nach der Menopause. Wer weiß, was den Haushaltsinspizienten sonst noch einfällt. Wollen wir nun mehr Kinder? Oder sollen wir mit der diskursiven demografischen Mobilmachung darauf eingestimmt werden, dass wir selbst schuld daran sind, wenn wir mit weniger Rente und schlechter Gesundheitsversorgung rechnen müssen?

Aber noch einmal zurück zu Schirrmacher. Bei aller biologistischen Erbauung liefert sein Traktat auch interessante Einsichten. Die Familie zum Beispiel ist für ihn nicht etwa ein sozialer Ort, wo Eltern mit ihren Kindern leben, sondern eine "Überlebensfabrik". In ihr agieren Frauen als "Überlebensmaschinen" und stellen "emotionalen Rohstoff" für die "Gemeinschaft" her. Ihre soziale Kompetenz ist eine "Marktlücke", die immer dringender nachgefragt wird, um "soziales Kapital" herzustellen.

Aber wenn die Familie wie eine Fabrik funktioniert, wo etwas Wichtiges, gar Überlebensnotwendiges hergestellt wird, für das angeblich nur Frauen sorgen: Warum wird dann die Produzentin nicht fürstlich bezahlt? Warum muss, ganz im Gegenteil, das, was hergestellt wird, unabdingbar umsonst sein, weil sich im "Geben" und "Nehmen" erst die "moralische Ökonomie" verwirklicht? Und warum, wenn das alles so ist, verhindert "Arbeit Geburten"?

Man ahnt es schon: Da ist von zweierlei Arbeit die Rede, eine, die etwas kostet und eine ganz andere, die möglichst nichts kosten soll. Und dabei macht die eine Arbeit die andere kaputt oder lässt sie gar nicht erst zur Entfaltung kommen, obwohl sie doch auf sie angewiesen ist, zum Beispiel in Form von gut versorgten und gut gebildeten Kindern, die später mal Rentenbeiträge bezahlen sollen (wobei, nebenbei bemerkt, natürlich nicht alle Kinder gemeint sind: Die mit der falschen Herkunft und den schlechten Aussichten sind so wenig erwünscht wie irgendwie "beschädigte" Exemplare). Wenn also die eine Form der Arbeit etwas verhindert, das ihre eigene Voraussetzung ist, was muss sich dann ändern? Die "biologische Programmierung", wie Schirrmacher meint, oder ganz schlicht die Arbeitsverhältnisse, die die "Produktion von Altruismus" gar nicht mehr zulassen?

Es ließe sich also auch etwas lernen aus der Demografiedebatte, würde sie einmal ideologisch entrümpelt (zum Beispiel vom Mythos des "Bluts" oder besonders überlebensfähiger Frauen) und von Schuldzusammenhängen befreit. Tschernobyl, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, hat übrigens vor Augen geführt, was häusliche Arbeit unter (begrenzten) Katastrophenbedingungen bedeutet. Wir werden in den nächsten Wochen viel darüber erfahren, welche medizinischen Folgen der GAU für die danach geborene Generation hatte. Wir wissen aber recht wenig darüber, welche Auswirkungen das damalige Krisenbewusstsein auf den Kinderwunsch hatte. Die "demografische Lage der Nation" lässt sich freilich besser auf die Zahl bringen als die mentale, für die noch kein Benchmarking erfunden ist. Die "Überlebensfabrik Familie" ist eben von anderem Kaliber und lässt sich nicht feindlich übernehmen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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