Union im Großversuch

Falsche Hypothesen Angela Merkel und der Widerstand des politischen Materials

Ziehkinder sind sie allenthalben und gerade deshalb zerstritten. Kaum ein politischer Kommentar, der nicht auf den Familienstreit abhebt und die garstigen Neider um "Angie", die etwas fertig brachte, was traditionell Aufgabe von Söhnen ist: Den Vater vom Thron zu werfen und zu beerben. Dabei hat die Tochter nur das, was sie beim stoischen, machtbewussten Vorbild lernte, in die kühle Zone der Globalisierung übersetzt. Das Kohlsche Primat, wichtig sei, "was hinten rauskommt" (insbesondere in der spezifisch pfälzischen Dehnung), mag irgendwann nur noch analytisch gestimmte Biografen beschäftigen. Angela Merkels viel zitiertes Bekenntnis "ich denke vom Ende her" dagegen meidet den Verdauungstrakt der Politik mit ihren Blähungen, den Darmverschlingungen und Blinddärmen, die das Geschäft beeinträchtigen. Ein Rezept für den Dung, der Landschaften erblühen lässt, hat die gelernte Quantenchemikerin jedenfalls nicht; sie verfolgt ein einfaches Ziel: Die Frau will um jeden Preis Kanzlerin werden.

Das ist, auch in der neuen deutschen Republik, für eine Frau, zumal für eine aus dem Osten, die noch dazu die "Fischköppe" anführt, ein politischer Großversuch. Selbst wenn man Staatsangelegenheiten nicht der Logik des Experiments unterworfen sehen will, kann man ihn für einen Augenblick einmal Ernst nehmen. Über sein Gelingen entscheiden dann nicht nur richtige oder falsche Hypothesen, sondern auch das experimentelle Arrangement, das Verhalten der Probanden, die Bewertung und Konsequenzen von Fehlschlägen.

Eine Hypothese der Unionsführerin ist die Annahme, dass - wer in der Politik reüssieren will - sich abheben muss, auch und gerade dann, wenn man in der Sache mit dem gegnerischen Lager paktiert. Damit begann ihr Überbietungswettlauf in Sachen Gesundheitsreform. Anfang des Jahres 2003 ließ Merkel ihren gesundheitspolitischen Tross aufmarschieren, um den Abschied von der "Vollkasko-Illusion" einzuläuten: Gegenüber der rot-grünen "Staatsmedizin" wurde damals der "mündige und eigenverantwortliche Patient" entworfen, der sich mit Eigenleistungen und Zusatzversicherungen an den Gesundheitskosten beteiligen sollte. Die Kopfpauschale war damals noch eingebunden in ein unüberschaubares, täglich aufgemischtes Maßnahmebündel, das von erfolgsorientierten Arzthonoraren über Wahlleistungen bis hin zur Ausgrenzung von Risikosportarten aus dem Leistungskatalog reichte. Erinnert sei daran, dass es der heute "sozialdemokratischste" Sozialpolitiker der Union, Horst Seehofer, war, der auf Selbstbehalte bestand.

Einmal profiliert, waren die dem "Gesundheitskompromiss" vorausgehenden Verhandlungen dann das Übungsfeld für die Große Koalition. Dort spannte Merkel nicht nur die rot-grüne Regierung aufs Prokrustesbett, sondern auch ihren eigenen Verhandlungsführer Seehofer, der, abwechselnd gelobt und gepeitscht, mit ansehen musste, wie die Chefin die vermeintlichen Versuchsleiter (Schmidt/Seehofer) zu beliebigen Objekten degradierte. Das historische Telefonat zwischen ihr und dem Kanzler brachte einen neuen gesundheitspolitischen Gegenstand - die Einheitsprämie für den Zahnersatz - auf den Labortisch. Die Zahnpauschale sollte den Tauglichkeitsnachweis für die nun in "Gesundheitsprämie" umgetaufte Kopfpauschale erbringen.

Schon damals allerdings geriet das experimentelle Arrangement der Angela Merkel durcheinander. Das Kopfpauschale-Modell war nicht im eigenen Haus gemischt, sondern ausgerechnet dem Kanzler-Berater Bert Rürup geklaut, der damit gegenüber der listigen Ulla Schmidt und ihrem Berater Karl Lauterbach unterlegen war. Gleichzeitig mischte Fabulus Seehofer sein eigenes Gebräu, das er stinkend Richtung Berlin aufsteigen ließ. Zwar zwang Angela Merkel auf dem Leipziger Parteitag die eigenen Reihen hinter ihr Gesundheitsmodell, doch weder die bayerische Schwester noch das Versuchspersonal im Land mochten sich damit anfreunden: Die Bürgerversicherung, ob nun richtig verstanden oder nicht und in welch abgespeckter Form auch immer, strahlte lichter und weiter.

Als sich in den vergangenen Monaten abzeichnete, dass die pauschale Zahnversicherung wegen "handwerklicher Mängel" womöglich bald von der Agenda verschwinden würde, sah sich Merkel plötzlich auch noch aus den eigenen Reihen umstellt: die niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen war die Erste, die für die Beibehaltung des bisherigen Systems plädierte, andere folgten. Und seit zwei Wochen nun der Aufstand der schwarzen Männer aus Bayern, die der Unionsfrau ihr Zahlenmaterial um die Ohren hauen und sie mit eigenen, schludrig ausgeführten Versuchsreihen aus dem Konzept zu bringen versuchen. Es scheint, als ob Angela Merkel die Kontrolle über Bedingungen und Umfeld des Experiments verliert.

Das ist gefährlich, weil genügend Aspiranten bereitstehen, die ihr gern den Giftkelch reichen würden. Jeder, der einmal im rücksichtslosen Versuchsfeld der Unionschefin ausmanövriert wurde, heißen sie nun Stoiber, Koch oder Merz, hat Grund zur Revanche (wenn Letzterer nun auch das Handtuch schmeißt). Mag Stoiber der Widersacherin in Sachen Türkei-Beitritt momentan auch Zucker hinhalten, inszeniert er sich doch gleichzeitig als sozialverträglicher Großkoalitiononär. Explosiv ist die Situation für die CDU-Vorgeherin auch deshalb, weil sie nun ständig gezwungen ist, das Feld neu aufzustellen. Sie kann versuchen, den Eigensinn zu brechen und die Kombattanten unters Joch zu zwingen. Sie kann den Versuchsweg modifizieren, bei Strafe des Scheiterns.

Als erfahrene Wissenschaftlerin könnte Merkel aber auch ihre Hypothese zur Disposition stellen: Denn warum sollte ausgerechnet ihr der Nachweis gelingen, dass sinkende Lohnnebenkosten Arbeitsplätze schaffen, zumal am anderen Ende hundertfach mehr vernichtet werden? Warum zieht sie den Leuten Geld aus der Tasche, das in Konsum besser investiert wäre? Und warum klebt sie an einem Modell, das gerade den Staat, den sie von Leistungen entlasten will, unabsehbar in die Pflicht nimmt? "Vom Ende her gedacht" ist das politisch unklug und auf jeden Fall "unwissenschaftlich".

Doch Angela Merkel ist nicht nur Wissenschaftlerin, die ein Experiment am Laufen zu halten hat, sondern auch eine Frau aus dem Osten, der die traditionelle Hausmacht fehlt und mehr als andere verleugnen muss, wofür sie stehen könnte: Ostverständnis, Gerechtigkeitssinn, Ausgleichsverhalten. Wer mit einem Kanzler in den Ring steigt, der herzloses Macho-Gehabe kultiviert und brachialen Politikstil verkörpert, hat zwei Möglichkeiten: den Kontrast oder die Überbietung. Als Kontrastprogramm würde Merkel von der westdeutschen Männerriege schnell erledigt worden sein; bleibt die Flucht in die Überbietung.

Nach innen heißt das sozialpolitischer Radikalumbau, der den "Herausforderungen des 21. Jahrhunderts" begegnen soll. Globalisierungs- und Sozialangst, Demografiemenetekel und Xenophobie: kein Bedrohungsszenario ist der Unionsfrau zu billig beim Aufstieg. Und nach außen buhlt sie um amerikanische Streicheleinheiten und einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat; nicht einen europäischen, wie ihr strategischer denkender Parteifreund Schäuble es will.

Und dann ist da noch die Ausgrenzungshaltung gegenüber der Türkei, für die ihr aus Bayern applaudiert wird, die in den eigenen Reihen und dort, wo die Geschäfte gemacht werden, jedoch wenig Sympathie findet. Mag sein, dass eine Unterschriftensammlung gegen den Einfall der Türken ins gelobte Land der Kanzlerkandidatin Merkel mehr populistischen Beifall bringt als die Kopfprämie. Sicherheit gibt es auch dafür nicht, denn von den vereinigten rechten Demagogen aus DVU und NPD ist herbe Konkurrenz zu erwarten. Gerade der rechte Rand der Gesellschaft ist kein willfähriger Proband im unterkühlten Sozialversuch, das haben die letzten Landtagswahlen deutlich gemacht.

Ein großes Experiment im Versuchsstadium also, mit vielen Variablen. Und eine Union, die sich nicht mehr einfach im Reagenzglas synthetisieren lässt, sondern sich zunehmend aufspaltet nach Interessen. Man muss sich nun wirklich nicht den Kopf von Frau Merkel oder der CDU zerbrechen, auch wenn man dem überheblichen Kanzler gerne eine starke Konkurrentin wünschte. Vom Ende her bedacht sieht es aber danach aus, als ob es lachende Dritte geben könnte.


Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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