Vernunft von unten

Literatur Die Gegenkultur der 1980er suchte neue Wege für Wissenschaft und Forschung – diese Ansätze stellt ein Sammelband vor
Ausgabe 15/2021

Cache leeren, fordern uns manche Computerprogramme auf, um Speicherplatz freizuschaufeln. Im Zwischenspeicher lagert Beiseitegeschobenes, das der Entsorgung harrt oder auf Wiederverwendung, wenn man es am wenigsten erwartet. Der Name Cache 01, den ein junges Wissenschaftler*innenkollektiv für seine Buchreihe gewählt hat, ist also ebenso konkret wie Metapher für ein ambitioniertes und im wahrsten Sinne des Wortes schwergewichtiges Unternehmen, für dessen Realisierung sogar ein eigener Verlag gegründet werden musste.

Alternative Wissensformen

Cache 01 öffnet die Geheimfächer jenes titelgebenden Gegenwissens, das sich im Zuge der Politisierung der Wissenschaften seit den 1980ern herausgebildet hat. Ob Kernkraft oder Waldsterben, es gab kaum einen Bereich, der nicht in die politischen Verwirbelungen dieser Jahre geriet und „alternative“ Formen des Erkennens, Forschens und der Praxis hervorgebracht hätte. Die „Gegenforschung“ lüftete nicht nur Universitäten und Akademien durch, sondern entstand häufig an der Basis, im Stadtteil oder im Kampf gegen Großprojekte, vom Atomkraftwerk bis hin zur Startbahn West. So eigensinnig sich diese Gegenwissenschaft etablierte, so eigenwillig gehen die heutigen Spurensucher wieder vor. Unter überraschenden Rubriken wie Selbermachen, Naturpolitiken, Kopflos, Maschinensturm und No Future werden die vielfältigen und auch widersprüchlichen Bestrebungen gebändigt und in neue Zusammenhänge gebracht. Unzählige Text- und Bilddokumente spannen den Erzählungsraum dieser Ära auf, begleitet von klugen Essays der Herausgeber*innen, die im Umkreis u.a. der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) und in Deutschland und Österreich tätig sind. Ergänzt werden sie durch teilweise sehr persönliche Repliken externer Wissenschaftler*innen.

„Selbermachen“. So lautete ein Zauberwort der frühen 1980er und umfasste das alternative Produzieren ebenso wie die Distribution und die Wissensakkumulation. Die aus der Besetzung des AKW Wyhl hervorgegangene Volkshochschule Wyhler Wald war der Prototyp dieses kollaborativen Wissens von unten, so wie Radio Dreyeckland in Freiburg den Durchbruch der freien Radioszene markierte. Dem das Bewusstsein bestimmende Sein der Linken folgte die bewusstseinserweiternde Einsicht, dass Veränderung im Alltag anfängt. „Körner statt Klassenkampf“, lautete das Motto der neuen Konsument*innen, die sich, so die spätere Analyse, „zwischen alternativen Lebensentwürfen und neoliberaler Optimierung“ bewegten. Die „Vernunft von unten“ brach sich Bahn gegen Pharmaindustrie, Bauspekulanten und die Vorläufer von Amazon und Co. Zukunfts- und Geschichtswerkstätten blühten auf, Häuser wurden besetzt, Läden gegründet. In den Gründerzentren übte sich das neue smarte Unternehmertum, und sogenannte „Stattführer“ wiesen den Weg durch die alternative Stadtlandschaft. Und wem es in der Stadt nicht gefiel, zog aufs Land oder in die Schweizer Berge, deren „Ganzheitlichkeit“ man wiederentdeckte. Im Schweizer Wallis sollten widerständige Bevölkerung, altes Wissen und sanfter Strukturwandel eine schöpferische Allianz eingehen.

Dass Euphorie und Skeptizismus in ein und derselben subkulturellen Gemengelage koexistieren konnten, zeigt das Beispiel Biotechnik. Hatte der Eugeniker und Humanist Julien Huxley (der Bruder von Aldous) auf dem berühmten Ciba-Kongress 1962 die Herausforderung der aufkommenden Biotechnologie angenommen, wird sie im Folgenden zum Inbegriff eines Wissenssystems, das sich des „Lebens“ bemächtigt und es unter Kontrolle bringen will. Früh entzündete sich die Kritik an der Reproduktionstechnologie. Während der international agierende Zusammenschluss „Finrage“ kritisierte, diese würde gegen die Frauen des globalen Südens eingesetzt, um sie zur Geburtenkontrolle zu zwingen, sahen amerikanische Feministinnen in der Technologie ein Mittel zur Befreiung der Frau. Immerhin stellte die feministische Wissenschaftskritik die angebliche Objektivität „männlicher“ Wissenschaft infrage.

Die aus der „Krise der Vernunft“ geborene Fortschrittsskepsis schlug in manchen Fällen um in Irrationalität, etwa auf der Suche nach „anderen“ Kulturen – erinnert sei an den Hexen- oder Keltenkult dieser Jahre. Den am rechten Rand tätigen Gegenaufklä-rer*innen bot sich mit der nun aufgewerteten Kategorie „Differenz“ allerdings auch der Vorwand, Chancengleichheit zu delegitimieren und unter dem Stichwort „Kulturrelativismus“ einen neuen rassistischen Elitediskurs in Verkehr zu bringen: Jeder Schwarze, der sich sterilisieren lässt, schrieb der Intelligenzforscher Arthur Jensen 1980 in der Zeitschrift Geo, solle eine Prämie von 1.000 Euro für jeden IQ-Punkt bekommen, mit dem er unter dem Durchschnittswert liegt. Kulturelle Differenz wurde zudem durch die „ ‚produktive Umcodierung von Ungleichheit zum Asset des globalisierten Kapitalismus“, wie die Herausgeber schreiben.

Bemerkenswert ist, dass sich der Alarmismus, den die „Gegenkultur“ benötigte, um auf sich aufmerksam zu machen (bis hin zum militanten Protest der Gruppe „Rote Zora“), bis heute erhalten hat in Form einer nun allerdings gesteuerten Erregungsöffentlichkeit. Das „sanfte“ Wissen wurde in kompatible Kanäle geleitet, domestiziert und nutzbar gemacht, zum Beispiel in gewinnbringend ausgerichtete ökologische Landwirtschaft. Die heute aufwachsende Generation, gibt Hans-Jörg Rheinberger zu bedenken, wird jedoch keine Zeit und Gelegenheit mehr haben, sich in alternativen Nischen zu verstecken.

Deshalb fordert diese lose zusammengesetzte, keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebende wissensbasierte Bewegungsgeschichte beide Generationen heraus und stellt das alternative Versprechen noch einmal auf die Probe. Das auf Fortsetzung abonnierte Format setzt auf ein kollektives Zusammendenken, das mitunter intellektuell streng und manchmal sehr suggestiv daherkommt. Der erschlossene „Zwischenraum“ erinnert ein wenig an die ebenfalls vorgestellte „Prick Art“ jener Zeit – Collagen, die geschlechtliche Repräsentationsräume aufbrechen und unterlaufen wollten. Mehr Kunst ist von Wissenschaft nicht zu verlangen.

Info

Cache 01: Gegenwissen Intercom-Verlag, Zürich 2020, 528 S., 25 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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