Anfang des 20. Jahrhunderts galt Chicago noch als das größte Schlachthaus der Welt. Nachdem Upton Sinclair in seinem Romanklassiker Der Dschungel die unsäglichen Zustände in den riesigen Fleischfabriken skandalisiert hatte, machten es sich deutsche Literaten anlässlich ihrer Amerika-Reisen zur Pflicht, die Schlachthäuser dort zu besuchen und sie mit ästhetisch überhöhtem Schauder zu beschreiben – gelegentlich sogar nur aus der Ferne, wie Brecht in der „Heiligen Johanna von den Schlachthöfen“.
Ein Jahrhundert später wäre eine Reisebewegung in umgekehrter Richtung angebracht. Ausländische Journalisten könnten darüber berichten, dass Deutschland zum europäischen Schlachthaus geworden ist und mit Arbeitsbedingungen aufwartet, die an Sinclairs Zeiten erinnern. Sie könnten davon erzählen, warum in Dänemark und Belgien Tausende Schlachthausarbeiter ihren Job verloren haben und schon 2010 französische Fleischfabrikanten die Europäische Kommission aufforderten, das Lohndumping in Deutschland zu beenden.
Mit Werkverträgen den Tariflohn umgehen
Schlachten in Deutschland ist, um im Bild zu bleiben, saubillig. Obwohl der offizielle Tariflohn bei rund 15 Euro liegt, lohnt es sich für die Anrainerstaaten, ihr Schlachtvieh nach Deutschland zu bringen. Ermöglicht wird das durch das deutsche Werkvertragssystem. Ausländische Firmen werben in Rumänien oder Spanien billige Arbeitskräfte an und holen sie zu uns. Hier müssen sie für das Unternehmen jederzeit verfügbar sein, werden in engen Behausungen zusammengepfercht und mit einem bar ausgezahlten Lohn, der diesen Namen nicht verdient, abgespeist. Ohne Papiere haben sie keine Möglichkeit, sich zu wehren. Der hiesige Fleischkonzern zahlt keine Sozialleistungen und wäscht seine Hände in Unschuld.
Was der NDR kürzlich in seiner Reportage Lohnsklaven in Deutschland ans Licht brachte, war nicht ganz neu, aber in seiner Drastik so aufrüttelnd, dass sogar der TV-Talker Günther Jauch in seiner Sendung die Frage stellte: Verkommt Deutschland zu einem Billiglohnland? Basiert die wundersame deutsche Prosperität auf der Tatsache, dass in Deutschland inzwischen fast ein Fünftel der Beschäftigten für einen Stundenlohn von unter 9,15 Euro arbeitet und 1,4 Millionen Arbeitnehmer sogar weniger als fünf Euro verdienen? Stoßen sich deutsche Unternehmen gesund, indem sie jene Nachbarn, die Mindestlöhne zahlen, schamlos unterbieten? Kurz: Sind wir eine Arbeitssklavengesellschaft, die den Menschenhandel forciert?
Regierung sieht keinen Handlungsbedarf
Als kürzlich in Bangladesh Hunderte von Menschen unter den Trümmern einstürzender Fabriken begraben wurden, liefen Krokodilstränen über deutsche Unternehmerwangen und Empörungsrufe durchs Land. Die überbelegten Gelasse, in denen die rumänischen Fleischarbeiter hierzulande hausen müssen, werden wohl auch nicht durchgehend unseren Brandschutzbestimmungen entsprechen. Ihre Unterbringung erinnert an die längst vergessenen Schlafburschen der Vorkriegszeit, als sich zwei Schichtarbeiter noch ein Bett teilten.
Die Zustände in der Fleischindustrie sind keineswegs ein Einzelfall. Nachdem Leiharbeit nicht mehr so attraktiv ist, hat der Werkvertrag auch für Beschäftigte, die in Supermärkten Regale auffüllen oder in Luxushotels Zimmer herrichten, Einzug gehalten. Unterstützt wird das System von kleinen, obskuren christlichen Gewerkschaften, die, obwohl gar nicht tariffähig, unsittliche Tarifverträge abschließen. Und es sind nicht Klitschen oder unter Druck stehende Mittelständler, die Dumpinglöhne bezahlen, sondern Großunternehmen und Konzernriesen wie Amazon.
Doch die Bundesregierung sieht „keinen dringenden Handlungsbedarf“, wie Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verlauten lässt. Bereits im Januar hatte der Sozialausschuss des Bundestags den Vorschlag der Linksfraktion, Werkverträge meldepflichtig zu machen und eine Statistik zu führen, abgelehnt.
Als im Februar der Bundestag über den Missbrauch von Werkverträgen debattierte, wiegelte die Union ab und schob die Verantwortung an die SPD mit dem Hinweis weiter, diese habe den Arbeitsmarkt doch dereguliert. Es ist nicht zu erwarten, dass sich an dieser hinhaltenden Haltung etwas ändert, wenn das Parlament in dieser Woche über entsprechende Oppositions-Vorlagen berät. Diese schwarz-gelbe Regierung, darin steht sie jener von 1989, die blühende Landschaften im Osten versprach, nicht nach, hegt lieber kurzfristige Blüten als langlebiges Gewächs.
Fleischskandale empören mehr
Was den Fleischmarkt betrifft, gibt es allerdings noch eine Besonderheit: Auf ihm werden Mensch und Tier gehandelt. Das Geschäftskartell, das die rumänischen Arbeiter beschafft, ist offenbar auch auf dem weiblichen Fleischmarkt tätig ist und betreibt Bordelle.
Auf das Tier, das auf unseren Tisch kommt, reagieren die meisten Verbraucher höchst sensibel. Das war schon zu Upton Sinclairs Zeiten so, dessen Intervention zwar den unhygienischen Verhältnissen in den Chicagoer Fabriken ein Ende setzte, nicht aber den miesen Arbeitsbedingungen. Der nächste Fleischskandal, ist zu vermuten, wird die Konsumenten wieder mehr empören als die Lage der Menschen, die für Schlachtung und Verarbeitung von Tieren zuständig sind.
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