Vorläufige Nachrichten aus dem Steinbruch

Selbstvergwisserung Zuerst Verriss, dann Kultbuch - und eine Lesehürde für die Westlinke

Er rechne nicht mit einer großen Verbreitung, erklärte Peter Weiss 1981 anlässlich des gerade erschienenen dritten Bandes der Ästhetik des Widerstands. Er hoffe allerdings auf die Aufnahme durch das Publikum in der DDR, von dem er "sehr viel" halte. Letzteres hat Peter Weiss bekanntlich nicht mehr erlebt, denn als sein Opus magnum dort mit einiger Verzögerung 1983 endlich erschien, war er bereits tot. Im Westen war die Rezeption bis Ende der siebziger Jahre in der Tat enttäuschend verlaufen: Die kleine Gruppe, die sich in der BRD für das Werk einsetze, hält Weiss 1978 resigniert in seinen Notizbüchern fest, "hat dieses Buch bisher nur über das 8. Tausend hinausgebracht".

Dazu beigetragen hatte eine ganz und gar bornierte und verständnislose "bürgerliche" Literaturkritik, die den sperrigen Text entweder als Umsetzung "kommunistischer Parteitagsbeschlüsse" (FAZ) geißelte oder ihn - wie Fritz Raddatz in der Zeit - als "gigantischen Prosairrtum" erledigte. Der "Wortsetzer Peter Weiss", so das viel zitierte Verdikt, "hat auf frappante Weise versagt, ist tonlos, sprachlos, farblos gescheitert". So und ähnlich tönte es gleich nach Erscheinen des ersten Bandes 1975 aus den meisten Gazetten. Da half es auch wenig, dass Alfred Andersch dem Kollegen mit einer überaus differenzierten Besprechung - damals übrigens auch erschienen in der Deutschen Volkszeitung, einer Vorläuferin des Freitag, deren Redaktion sich nachdrücklich um die Vermittlung der Ästhetik des Widerstands bemühte - beizuspringen versuchte: "Über ein Buch wie dieses", hebt Andersch einleitend an, "kann man nur vorläufig Nachricht geben."

Die "vorläufige Nachricht", die zunächst beim Publikum ankam, verhieß, dass es sich beim Weiss´schen "Steinbruch" um ein überaus schwer goutierbares, verwirrendes und ganz und gar widersetzliches Stück Literatur handelte, wobei sogar umstritten blieb, ob man es überhaupt mit einem Roman zu tun hatte oder mit alternativer Geschichtsschreibung "von unten". Die proletarische Perspektive des namenlos bleibenden Ich-Erzählers, der sich in einer lebensbedrohlichen historischen Situation - der Roman umfasst die Zeit zwischen 1937 bis 1945 - auf einen ausufernden Dialog mit potenziellen Bündnispartnern gegen den Faschismus einlässt, stieß den etablierten Kulturbetrieb vor den Kopf, aber auch auf viel Ratlosigkeit der wohlmeinenden Leserschaft. Die monolithischen Textblöcke, die avancierte Kunstreflexion und die überindividuellen Figuren, die sprechend Haltungen verkörpern, dazu eine Prosa, die hohe Konzentration abverlangt und keinerlei Verschnaufpause zugesteht, all dies war selbst für die Staub fressende Linke eine Zumutung.

Weshalb die Ästhetik des Widerstands im Westen dann doch noch zu einem Kultbuch - vergleichbar in der Wirkung nur mit Klaus Theweleits Männerphantasien (1977) oder Verena Stephans Häutungen (1975) - aufstieg, lässt sich nur aus den Zerfallsszenarien erklären, die die Studentenbewegung dem "roten Jahrzehnt" hinterließ. Eine organisatorisch zersplitterte, zutiefst verfeindete Linke, die sich mit einer (noch) weitgehend saturierten Arbeiterklasse konfrontiert sah und gleichzeitig ihre Desillusionierung über den realen Sozialismus zu verdauen hatte, griff begierig nach Angeboten der Selbstvergewisserung. "Wir brauchen dieses Buch", schrieb Wolfgang Fritz Haug 1981, "weil es eine marxistische Vergangenheitsbewältigung unternimmt" - und damit bezog er sich nicht nur auf gescheiterte Revolutionen, Faschismus oder Stalinismus. Die Fragen, die sich der Ich-Erzähler, Heilmann und Coppi in der Ästhetik des Widerstands stellen, waren durchaus auch die Fragen der nachgeborenen Linken - nur dass die damals noch reichlich Schwierigkeiten hatte, sich mit widersprüchlichen Antworten in der Art von Peter Weiss zu arrangieren.

Der breiteren Rezeption half dann nach, dass der Suhrkamp-Verlag anlässlich seines 33-jährigen Bestehens 1983 die drei unansehnlichen und relativ teuren "Schinken" zusammenband und in sein preisgünstiges "Weißes Programm" aufnahm. Fortan hockte man nicht mehr mit den "blauen Bänden", sondern mit einem weißen schwergewichtigen Wälzer in Lesezirkeln zusammen, grub sich seitenweise durch die monologische Strenge, wälzte Kunstbände mit Géricaults Floß der Medusa und hörte Hans Werner Henzes gleichnamiges Oratorium - nach Jahren "revolutionärer" Kunstächtung war das für viele wie eine Offenbarung und eine Wiederaneignung.

Mit dem linken Banausentum lag Peter Weiss schon im Clinch, als er 1968 mit dem Viet Nam Diskurs bei Peter Stein in der Berliner Schaubühne auflief: " ... wie eine Arbeit im Feindesland", notiert er, und anlässlich der Sprengung der Trotzki-Uraufführung in Düsseldorf beschwert Weiss sich über eine "Handvoll Kultursprenger, Kunststürmer, Antiintellektualisten ... ". Das Verhältnis zwischen Peter Weiss und der Linken war, trotz oder vielleicht gerade wegen seines unbedingten Bekenntnisses zum Sozialismus, zeitlebens gespannt. Er hielt sich, wie viele Überlebende, fern vom Land der Barbaren und blieb fremd in der deutschen Sprache. Es ist - Jean Améry wäre dafür ein weiteres Beispiel - sicher kein Zufall, dass die auch nach 1945 im Exil lebenden Autoren im "monologischen" Essayroman, im erzwungenen Selbstgespräch ihre genuine Ausdrucksform fanden.

Außenseiter war Weiss auch im Hinblick auf seine ästhetischen Ansprüche, die er - selbst Promotor des Dokumentarischen - eben nicht auf die damals forcierte "operative" Kunst einzuschränken bereit war. "Die Ausschneidetechnik", lässt er eine seiner Figuren in seinem letzten 1959 auf Schwedisch geschriebenen Roman Die Situation sagen, "hält am Mechanischen fest, sie verschließt die Phantasie". Dieses Buch, erst im Jahr 2000 auf Deutsch erschienen, lässt sich als eine wesentliche Vorarbeit zur Ästhetik des Widerstands lesen.

Der bis zur Zerreißprobe gespannte Widerspruch zwischen extremer Subjektivität und historisch Verbürgtem und der quälende, von Weiss bis zum Äußersten getriebene ästhetische Aneignungsprozess von Kunst, durch den er die Katastrophen des 20. Jahrhunderts aufscheinen lässt, sind auch heute noch eine immensen Lektüre-Herausforderung. Mag über das, was in der Ästhetik des Widerstands verhandelt wird, "die Geschichte" gegangen sein, und der Zusammenbruch des realen Sozialismus als vorläufige Schlussfigur im fiktiven Gespräch erscheinen, bleibt der politische Anspruch davon doch unberührt. Die Aufforderung nämlich, auch gegen das berühmte "Konjunktiv Futur I" des Romanschlusses, das heißt gegen die Aussichtslosigkeit der Zukunft das erinnerte Unfassbare ästhetisch zu vermitteln und zum Ausgangspunkt von Widerstand zu machen.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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