Die Deutschen sind über alle Maßen wissensdurstig. Sagen jedenfalls die Meinungsforscher. Und haben auch schon einen unwiderlegbaren Indikator ausgemacht: Der nicht abreißende Erfolg von Ratesendungen à la Wer wird Millionär sei darauf zurückzuführen, dass die Leute wissen wollen. So gesehen müssten wir uns eigentlich keinen Pfifferling mehr kümmern um die niederschmetternden Ergebnisse von Pisa und den betrüblichen Zustand jugendlicher Wissensbestände: Setzen wir unsere Kinder doch einfach den jauchigen Pille-Palle-Einheitstrichter auf, der ihnen auf dem Weg zum Millionär alles Maßgebliche mitgibt - ohne Tellerwaschen, versteht sich.
Natürlich ist das mit dem Wissen doch nicht ganz so einfach, müssen sich die Verleger von Zeit und Süddeutscher Zeitung gesagt haben. Und hatten einen Geistesblitz, den nicht Hirn-, sondern wiederum Marktforscher verantworten: Wissen braucht bildende und bildnerische Anschauung. Was die Leute kapieren sollen, muss aus dem Alltag geschöpft und schön ins Bild gesetzt werden. Weshalb, das sei vorab und neidlos eingeräumt, vor allem das neue Zeit Wissen dabei ist, den Marktführer Geo aus dem Bilderrennen zu werfen. So viel schöne Brillenkaimane, Beulenkrokodile und Plattschwanzgeckos gab es in Brehms Tierleben, aus dem ich weiland meine Fauna-Kenntnisse bezog, nicht. Und auch die Führerbunker (Ost und West) überzeugen durch Tiefenschärfe.
Ansonsten überrascht das, was Holtzbrinck und Süddeutscher Verlag nun vierteljährlich oder öfters auf den Markt zu werfen beabsichtigen, durch erstaunliche Affinität, nicht nur per Titelei (Wissen, was einleuchtet, weil es anzeigt, dass Wissenschaft bei den Leuten ankommen muss, um sich marktrelevant zu entfalten), sondern auch hinsichtlich inhaltlicher Überschneidungen: Das Einstein-Jahr wird ebenso zweistimmig eingeläutet wie die Grippe-Saison mit all ihren Schrecken ("Die biologische Atombombe", SZ Wissen; "Massenmörder Grippe", Zeit Wissen). Und weil auch wissenschaftsferne Hausfrauen angesprochen werden sollen, geht es brigittig um Geschwisterhass (Zeit), während sich die Konkurrenz Gedanken darüber macht, wie wir es schaffen, unseren Wunsch nach einem Mädchen oder einem Jungen zu erfüllen.
Zu meiner Zeit haben die Frauen noch den Mondkalender befragt oder nahmen bei Bachblüten Zuflucht, mit mäßigem Erfolg. Den Aufwand hätten wir uns sparen können, sagt der Autor des Textes über Leon oder Lena, wenn wir den richtigen Partner gewählt oder gewusst hätten, dass optimistische, kräftige Frauen eher einen Jungen, mäßig lebensfrohe Feministinnen wahrscheinlicher Mädchen gebären, weil die nicht so "kostspielig" sind bei der Aufzucht. Und dann mäandert der Schreiber innerhalb eines einzigen Gedankens und Satzes dreimal zwischen Tier- und Menschenreich, um wissenschaftlich alles hieb- und stichfest zu machen. Astronauten, Geologen und Testpiloten bekommen übrigens auch häufiger Mädchen, weil die wohl schon im Uterus ahnen, dass Papi viel unterwegs sein wird und sie bei der Mama gut aufgehoben sind und keine so starke Hand brauchen.
Eine Glosse? Keineswegs. Alles belegt durch statistische Wahrscheinlichkeit. Der frönt SZ Wissen noch in weiteren Beiträgen. Nach der Lektüre von Die Formel für das Herz (zehn Schritte im Selbsttest) wissen Sie alles über Ihr Herzinfarktrisiko - oder eben nicht. Die Kollegen von der Zeit stehen in Sachen biologistischem Narrativ und stochastischer Deutungskompetenz nicht nach. Ihnen hat es die Geschwisterfolge angetan und wie sie unsere Persönlichkeit formt: Bunkermentalität der Erstgeborenen, Wegbeißreflexe, Anpassungsbereitschaft und Nischensuche - kennen wir doch alles aus der Evolution. "Seit der Urzeit erleichtern zusätzliche neue Fähigkeiten die Lebenschancen", weiß der Autor zu berichten. Und wir sind erleichtert, im allerletzten Absatz zu lesen, dass Schüchternheit nur zu 50 Prozent erblich ist und überhaupt die bösen Omen der Geschwisterfolge kein Automatismus sind.
Natürlich wird im einen oder anderen Beitrag auch eloquent vermerkt, dass die Kosmetik-Industrie falsche Versprechungen macht (Zeit) oder die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung staatlicherseits missbraucht werden könnten. Immerhin. Grundsätzlich aber stellt der Hirnforschung-Schwerpunkt von SZ Wissen deren Annahmen, Experimente und Resultate nicht in Frage. Selbst dann nicht, wenn etwa Versuche, das "Belohnungszentrums" einer Ratte elektronisch zu verstärken, fatal an längst widerlegte behaviouristische Modelle erinnern. Es kommt halt alles wieder. Der sozialdarwinistische "Kampf ums Erdöl" (SZ) steht dem "egoistischen Gen" in nichts nach, und was der Ratte recht ist, ist dem Menschen billig.
Einfach mehr verstehen, untertitelt die Zeit doppeldeutig ihr im Vergleich zur bescheidener daherkommenden SZ aufgepepptes Hochglanzmagazin. Vielleicht ist damit nur die Simplizität des Multiple-Choice der Ratespiele gemeint (das wäre harmlos); vielleicht sind es aber auch die technizistisch angeleiteten Lösungsversprechen der neuen, biologisch grundierten "Menschenwissenschaften". Die Nachfrage nach populären Wissensmagazinen (bei gleichzeitiger Stagnation eingeführter Wissenschaftstitel) könnte darauf deuten, dass die Leser lebensnahe Antworten auf Fragen suchen, die sie weder bei Politikern finden noch bei deren medialen Sprachrohren. Das ist ein berechtigtes Interesse. Die Krise des Meinungsjournalismus läuft jedenfalls auffällig parallel zum Aufschwung des populären Wissenschaftsjournalismus. Ob allerdings der biologische Pop-Positivismus, der aus fast jeder Heftseite der neuen Magazine dräut, angemessene Antworten zu geben vermag? Es könnte ja alles noch viel einfacher sein und ganzseitige Anzeigen von BP, VW, Vodafon, BASF oder La Roche sind Anlass genug, den neuen Wissensmarkt zu bestellen.
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