Pandemie Die Schweinegrippe hat die Gesundheitspolitik auf Hochtouren gebracht, die Industrieländer bestellen Impfstoffe vor. Das neue Virus ist vor allem ein Erreger der Angst
"Die Nachbarn mieden einander. Man schloss sich ein, die Arbeit blieb liegen, nicht einmal der Klostervogt ließ sich blicken. Aber es war vergeblich, die Krankheit flog von Haus zu Haus, das Sterben begann." Fern scheinen die Zeiten als die Pest, die Lukas Hartmann in seinem historischen, Roman Die Seuche wie in einem Brennspiegel heranrückt, durch Europa zog und den Kontinent entvölkerte. Der Geißel Gottes begegneten die hilflosen Menschen mit magischer Bannung und Selbstbestrafung. Von Übertragungswegen wusste das 14. Jahrhundert noch nichts, doch es ist bemerkenswert, dass die saisonal wiederkehrende Grippepanik, sei sie nun von Vögeln, Schweinen oder anderen tierischen Inkubatoren übertragen, den psychischen Haushalt der Menschen ähnlich in Besit
ich in Besitz nimmt wie vor 700 Jahren.Bizarr wirken Szenen wie in Niedersachsen, wo Arztpraxen geschlossen wurden, weil dort verdächtige Patienten ohne Mundschutz und Handschuhe behandelt worden waren. Die keimfreie Schließungsanordnung des Gesundheitsamtes überbrachte ein Feuerwehrmann mit Gesichtsmaske. Gemessen an der derzeit schwachen Verlaufsform der Krankheit, die oft von einem grippalen Infekt gar nicht zu unterscheiden ist, gemessen an der Zahl der Fälle und an der Tatsache, dass die meisten Patienten die Krankheit von Auslandsreisen ins Land eingeschleppt haben, erscheinen derartige Reaktionen grotesk überzogen.Über 3.400 Fälle von Schweinegrippe sind mittlerweile in Deutschland aufgetreten, wobei die rasanten Steigerungsraten der letzten Tagen darauf zurückgehen, dass mittlerweile viele Betroffene gar keinem Test mehr unterzogen werden, es also offen ist, ob es sich um die H1N1-Virus handelt oder um eine andere Grippe. Andererseits könnte die Dunkelziffer auch wesentlich höher sein, denn meist verläuft die Krankheit harmlos und bleibt völlig unbemerkt. Bliebe es bei dieser Entwicklung, ließe sich die Schweinegrippe getrost ad acta legen.Das Problem ist allerdings, dass Viren generell und das Schweinegrippe-Virus insbesondere dazu neigen, sich mit der Zeit zu verändern und für den Menschen gefährlicher zu werden, was oft sogar Jahre dauert. Deshalb kann eine Pandemie in mehreren Wellen verlaufen, die zu mehr und schwereren Infektionsfällen führen. Gegen die schon rollende Ansteckungsrunde lässt sich ohnehin nur noch wenig ausrichten. Zum einen, weil ein Impfstoff voraussichtlich erst Ende September zur Verfügung stehen wird. Zum anderen, weil eine Impfung zum derzeitigen Zeitpunkt gar nicht mehr helfen würde. Einen relativen Schutz bieten die altbewährten Vorsichtsmaßnahmen: große Menschenansammlungen meiden und häufiges Händewaschen – eine Tugend, die, wie man weiß, leider auch unter Krankenhausärzten aus der Mode gekommen ist.Das Geschäft der SaisonUm die Impfung selbst, steht ein entsprechendes Serum einmal zur Verfügung, ist eine heftige Debatte entbrannt, die den alten Impfstreit wieder aufleben lässt. Der Arzt und Epidemiologe Tomas Jefferson gilt als wichtigster Anführer der Skeptiker. Als Experte der renommierten Cochrane Collaboration – ein Netzwerk, das wissenschaftliche Studien auf Evidenz überprüft und den Stand der Forschung zu medizinischen Fragen referiert – räumt er der Impfung keinen überragenden Stellenwert ein. Wie eigentlich schon seit den Paniktagen der Vogelgrippe bekannt, verkürzt etwa das Grippemittel Tamiflu die Krankheit nur um einen Tag, verhindern kann es sie nicht. Ähnliche Erfahrungen lassen sich auch aus den herkömmlichen Grippeimpfungen, die ebenfalls nur den Krankheitsverlauf mildern, ziehen. Dieser Vorteil ist aufzuwiegen gegenüber den durchaus vorhandenen Nebenwirkungen, die gerade bei den besonders gefährdeten Personen, Alten, Kranken und Kindern, verstärkt auftreten.Dennoch läuft die epidemiologische Maschinerie auf Hochtouren, flankiert von Experten, Politikern und Medien. Als ob mit der Grippekrise die Gesundung zumindest eines Teils der danieder liegenden Wirtschaft in Aussicht stünde. Und in der Tat laufen bei den einschlägigen Impfstoffproduzenten die Eier heiß. Das H1N1-Virus, aus dem man den Impfstoff herstellt, wird nämlich in Hühnereiern gezüchtet; nur dass dieser sich dort unwohler fühlt als andere Grippeviren und sich langsamer vermehrt. Das führt zu den jetzt schon absehbaren Produktionsengpässen bei Roche, Glaxo Smith Kline oder aber Sanofi Pasteur. Der Konzern war kürzlich in die Schlagzeilen geraten, weil er mit windigen Werbestrategien und geschönten Studien seinen Impfstoff gegen Gebärmutterhalskrebs auf dem Markt platzieren wollte.Die Pharmaanbieter wittern das Geschäft der Saison, denn schon jetzt haben die Industrieländer den virtuellen Grippe-Impfstoff vorausgebucht und so den Weltmarkt leergefegt. Drei Milliarden Dollar, so der Guardian, wolle Glaxo Smith Kline an Impfstoffen und dem Grippemedikament Relanza verdienen. Der Absatz von Tamiflu (Roche) soll bereits um 200 Prozent gestiegen sein – von ohnehin hohem Niveau aus, denn Tamiflu war schon während des Vogelgrippe-Hypes präventiv geordert und gehortet worden. Der Schweizer Pharmariese Novartis beliefert mehr als 35 Regierungen, der US-Konzern Baxter International kann keine Aufträge mehr annehmen. 900 Millionen Impfstoffdosen haben sich die Industrieländer gesichert, davon 100 Millionen die USA – während die ärmeren Länder nicht oder wenig versorgt werden.Unterdessen wird in Deutschland noch über die Finanzierung der 50 Millionen Dosen gestritten. Bei zwei notwendigen Impfungen genügt die bestellte Menge vorerst für ein Drittel der Bevölkerung: chronisch Kranke und besonders gefährdete Berufsgruppen, so sieht es der nationale Pandemie-Plan vor. Wie sinnvoll diese Auswahl ist angesichts der Tatsche, dass das Virus Vorliebe für junge gesunde Männer zeigt, ist eine Frage. Ob die 700 Millionen Euro für den Impfstoff und die rund 150 Millionen Euro für die Durchführung der Impfung von den Krankenkassen übernommen werden oder ob der Bund einspringen muss, ist eine andere. Die Länder haben bereits abgelehnt, sich an den Kosten zu beteiligen.Die Sicherheit in den KöpfenOb eine „Durchimpfung“ der gesamten Bevölkerung, wie in den USA geplant, überhaupt angeraten erscheint, ist unter Experten umstritten. Alexander Kekulé von der Uni Halle gibt zu bedenken, dass, wenn es überhaupt soweit komme, ein Teil der Menschen die Infektion bereits hinter sich haben könnte. Oder aber, fürchten Epidemiologen, der Erreger könnte sich bis dahin so verändert haben, dass das verfügbare Präparat gar nichts mehr ausrichtet.„Da muss ich jetzt durch“, pflegt man zu sagen, wenn gegen Ende des Winters Kopf- und Gliederschmerzen anzeigen, dass eine Grippe im Anzug ist. Dass mancher Patient dieser Erkrankung sogar erliegt, vergessen wir meist, und niemand gerät darüber in Aufregung.Die inzwischen jährlich laufenden Pandemie-Diskurse indessen sind nicht nur clevere Geschäftsstrategie, sondern ein ernst zu nehmendes Zeichen dafür, dass das allgemeine Sicherheits- und Präventionsdenken sich tief in die Köpfe eingepflanzt hat und immunologische Verteidigungsstrategien ersinnt. Die Welt des 14. Jahrhunderts hatte die Kranken noch in Sterbehäuser ausquartiert, um sich zu schützen. Die auf Sicherheit gestimmte Welt des 21. Jahrhunderts immunisiert sich als Gemeinschaft gegen den Menschen als „Feind“ – ob es sich nun um eine potenzielle „Virenschleuder“ oder um einen vermeintlichen „Terroristen“ handelt.
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