Wünsche entdecken, Mehrwert schaffen

Ehrenamt Der Staat will Kosten sparen und Bürger in die Pflicht nehmen. Eine Zumutung, meint Idil Efe von den „Neuköllner Talenten“. Das Projekt sucht neue Paten

Alljährlich im September veranstaltet das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) eine Aktionswoche, durch die die Rolle der ehrenamtlichen Arbeit in Deutschland hervorgehoben werden soll. Anlässlich solcher Feierstunden pflegt Familienministerin Kristina Schröder darauf hinzuweisen, dass Bürgerengagement der Kitt sei, der die Gesellschaft im Innern zusammenhalte. Und den der Staat – das sagt sie aber nie! – nicht mehr über Sozialarbeit finanzieren will.

Doch als Ersatz für das, was Lehrer oder Sozialarbeiter nicht mehr leisten können, will Idil Efe ihr Projekt nicht sehen: „Ich möchte nicht, dass wir zum Alibi werden, um alles Soziale privatem Engagement zu überlassen. Es ist toll, dass sich Menschen ehrenamtlich engagieren, aber gleichzeitig schrecklich, dass der Staat versucht, uns zu missbrauchen. Wenn unsere Arbeitsministerin zehn Euro für Kinder bereitstellt und sagt, davon könnte man Klavierstunden finanzieren, dann denke ich, dass wir in Parallelwelten leben, aber ganz anderen als die, von denen immer die Rede ist.“

Finanzierung ist ausgelaufen

Idil Efe ist Leiterin der Neuköllner Talente, eine Intiative, die die Bürgerstiftung Neukölln vor drei Jahren mit Unterstützung der Aktion Mensch ins Leben gerufen hat. Ziel des Projektes war es, dem Negativimage Neuköllns als Problemkiez etwas entgegenzusetzen und deutlich zum machen, wie viel Potenzial dort unentdeckt schlummert. Kinder zwischen acht und zwölf Jahren sollen ermutigt werden, ihre Wünsche zu formulieren und ihre Talente zu erproben.

Ob es nun darum geht, ein Instrument zu erlernen, sich mit Astronomie zu beschäftigen, zu malen, Sport zu treiben oder einfach nur aus der Stadt herauszukommen und Tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten: Fachlich versierte oder nur interessierte ehrenamtliche „Talentpaten“ helfen ihnen einmal in der Woche für einige Stunden dabei, diesen Schatz zu heben und ihre Begabungen zu entwickeln. „Ich möchte nicht“, sagt Efe, „dass unsere Kinder als „arme Asoziale“ wahrgenommen werden. Die Paten sollen auch nicht wie etwa Sozialarbeiter anstehende Probleme lösen oder den Mangel verwalten, sondern es geht um die Wünsche der Kinder, darum, einen Mehrwert zu schaffen.“

109 Paten haben sich bislang im Projekt engagiert, derzeit laufen noch 39 Patenschaften. Es könnten mehr sein, denn momentan stehen 20 Kinder auf der Warteliste. Doch es fehlt an Patinnen und Paten, weil die Finanzierung der Aktion Mensch ausgelaufen ist und unklar war, ob und wie es weitergeht. Inzwischen hat sich ein halbprivater Sponsor gefunden, der das Projekt mit 70.000 Euro ein weiteres Jahr über Wasser hält. „Eigentlich zu wenig“, sagt Idel, „für eine ausreichende Finanzierung benötigten wir 100.00 Euro im Jahr.“

Viele Paten unter 35

Für die Patinnenn und Paten, betont Efe, ist das Projekt keine Einbahnstraße, sie bekommen viel zurück. Ehrenamt ist heutzutage keine karitative Angelegenheit mehr, sondern ein Unternehmen auf Gegenseitigkeit. Während sich in Neukölln plötzlich junge Klavier- oder Geigentalente finden, Kinderjournalisten in einer Berliner Tageszeitung aus ihrem Kiez berichten, Sportcracks entdeckt werden oder sie einfach nur lernen, ihre kommunikativen Fähigkeiten zu entwickeln, liegt der Reiz für die Paten nicht nur darin, etwas für ihren Kiez zu tun: Die einen wollen den Kontakt zu den Jüngeren halten, die anderen finden den Einblick in andere soziale Schichten und Kulturen spannend, wieder andere freuen sich einfach nur am Zusammensein mit den Kindern.

Die meisten Ehrenamtlichen stammen aus dem Kiez, und überraschenderweise sind 80 Prozent aller Paten unter 35 Jahren. „Oft stammen sie gar nicht aus Berlin und haben sich in ihren Heimatstädten schon engagiert“, erzählt Efe. „Nicht selten sind sie behütet im bürgerlichem Milieu aufgewachsen und werden einmal die künftigen gesellschaftlichen Entscheidungsträger sein.“ Da kann es nicht schaden, wenn sie auch mit den weniger privilegierten Schichten der Gesellschaft konfrontiert werden und sich damit auseinandersetzen.

Und ganz konfliktfrei laufen auch die Patenschaften nicht ab. Manchmal sind die Erwartungen vor allem der Erwachsenen zu groß, beobachtet Efe: „Die Eltern erwarten zum Beispiel Hilfe bei der Erziehung“, so ihre Erfahrung, „und es gab auch schon Paten, die es eben nur ‚schick’ fanden, sich zu engagieren und später überfordert waren.“ Mindestens ein halbes Jahr verpflichten sich die Paten, bei der Stange zu bleiben, oft dauert die Patenschaft aber länger. Im besten Fall entsteht eine stabile Beziehung und Freundschaft, die lange über die Patenschaft hinausgeht.

Ob eine Patenschaft gut funktioniert, hängt wesentlich von der Familie des Kindes ab. Sie ist die Stütze: Wird der Pate oder die Patin von den Familien nicht akzeptiert, funktioniert auch alles andere nicht so gut. Und natürlich müssen sich Pate und Patenkind sympathisch sein. Die 25-jährige Nina hat die 15 Jahre jüngere Duygu beim Mensch-ärgere-dich-nicht beim monatlichen Spielenachmittag kennen gelernt: „Die Chemie zwischen uns stimmte sofort“, erinnert sich Nina auf der Homepage des Projekts. Die elfjährige Beyza tritt ihre Patin Monika noch immer, obwohl die Patenschaft bereits ausgelaufen ist: „Monika ich mag dich“, schreibt Beyza. Und setzt dazu: „Idil dich auch“.

Wer sich für das Projekt interessiert oder Patin oder Patin werden möchte, kann sich informieren bei:

Neuköllner TalenteIdil Efe (Projektleitung)
Emser Straße117
12051 BerlinTel. +49 30 627 380 14neukoellner-talente.de

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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