Zwei Null Null Null

IMMER WIEDER "FÜNF VOR ZWÖLF" Aufbruch in eine Ära der Schwerelosigkeit

Gemessen an der angebotenen Festkleidung muss es ein Fest werden. Rauschend. Nachdem die weihnachtlichen Rauschgoldengel, die man in meiner Kindheit noch aus Goldpapier zu fabrizieren pflegte, endgültig abgedankt wurden, müssen wir schon selbst für den Rausch sorgen: Millenniumsrausch, Millenniumsrauch, blauer Dunst. Niemand steht mehr ein für die Zukunft, und erlösen können wir uns nur selbst von der Magie, die mit einer Zahl beschworen wird: Zwei Null Null Null. Das entzieht sich immerhin dem binären Code und stinkt doch gewaltig nach Nullität.

Stellen Sie sich vor, es ist der 1. Januar der "neuen Zeit", und alles geht weiter wie bisher. Die Affairen und Affärchen, die schleichenden Katastrophen und eine U-Bahn, die ausfällt, weil jemand das Nichts nicht ertrug und sich vor die Gleise warf. Fallout. Es kann doch alles nicht so weitergehen, und so kaufen wir die überdimensionierte Sektflasche und warten noch weitere dreißig Jahre auf den Ausstieg aus was auch immer. Aufschubzeit. Als ein vergessener baden-württembergischer Ministerpräsident vor bald dreißig Jahren drohte, alle Lichter auszulöschen, ging ein Licht durch das Land. Aber die Kerzen, die uns dann per Lichterkette noch ein paar Jahrzehnte herüberretteten, fackeln nun - vielleicht - im Lichtdom über der Siegessäule, mit Strom aus den russischen Pipelines.

Fragte man in diesen Wochen nach den Plänen anlässlich dieses Jahreswechsels, musste man sich auf aggressive Reaktionen gefasst machen: Wie zelebriert man Besonderheit in der Aura der Null, die sich so dick und so schwerfällig voranbewegt, dieses Sinntönnchen, das allen Sinn zu absorbieren scheint. Welche Festivität des Banalen ist geeignet, das Fest vorhergesagter Untergänge und Wiederauferstehungen zu feiern? Mit den Übergängen tut man sich schwer, denn die Mischungen und Uneindeutigkeiten entziehen sich dem Quantifizierbaren, Binären. Der städtische Lichtflug am Festhimmel oder der Absturz mit dem Linienflugzeug - das sind die Alternativen. Wer an diesem Silvesterabend in den Flieger steigt, gilt als todesmutig; ein Todesmut, der tagtäglich besinnungslos praktiziert wird. Es ist, als ob wir eigens diesen Tag bräuchten, um zur Besinnung zu kommen.

"Trash" heisst das Symbol für den Abfalleimer in meinem Computerprogramm. Wen oder was ich nicht haben will, werfe ich in diesen virtuellen Keller, und was "wiederbelebt" aufersteht, wird am Keyboard entschieden. Die Fiktion des "Nullpunktes" - historisch verbürgt und doch immer wieder exkommuniziert - löst Faszination aus und Angst. Wie harmlos scheint es von heute aus gesehen, nur Straßen und Plätze umzubenennen. Weniger harmlos dagegen der Freikauf von Schuld und Mitleid an den ehemaligen Zwangsarbeitern, die dieser Tage per versicherungstechnischer Abfindungserklärung bestätigen sollen, dass mit dem Schmerzensgeld auch der Schmerz gelöscht wird.

"Abwickeln" gehört bekanntlich zu den Unwörtern der deutschen Einheit. Der Sekundenzähler an der Staatsbibliothek West zu Berlin wickelt momentan die letzten Tage dieses Jahrhunderts ab. Wenn der digitale Zeiger auf Null rückt, haben wir es hinter uns gebracht und starten mit einer überdimensionalen neuformatierten "Festplatte" ins nächste Jahrtausend. Diesem Akt dienen - so paradox es scheint - sowohl die Gedenktagrituale als auch die Schlussstrich-Debatten. Der historische Revisionismus der letzten zehn Jahre entledigt sich der Referenzen in dem Maße, wie die Archive überquellen. Nein, ohne eine tadellose Buchführung und eine ordentliche Bilanz ist ein Nullpunkt nicht zu haben. Die Vorstellung, den historischen Sündenfall geläutert zu hintergehen, ist offenbar attraktiver, als den Stein des Sisyphos immer wieder freudig den Berg hochzuschleppen.

Doch bei alledem treibt uns die panische Angst vor der Delete-Taste um. Gäbe es nicht die technologisch prognostizierte Apokalypse - den weltumspannenden Computercrash - dann müsste ein Untergangsszenario erfunden werden zu diesem ereignislosen Datum. Die Furcht, den Bezugspunkt zu verlieren, die Rückbindung - religio - an die Vergangenheit ist unübersehbar. Dem kleinen Tod, der zwischen den Jahrtausenden gestorben wird, ist noch kein Modell geschrieben. Und es gibt Anzeichen dafür, dass er - zumindest in diesen Breiten - schon vor zwanzig Jahren gestorben wurde.

Im Jahre 1980 erschien ein grauer Backstein, der in der deutschen Fassung sinnigerweise im Verlag Zweitausendeins erschien. Das Werk war gerichtet an den damaligen amerikanischen Präsidenten und nannte sich Global 2000. Es skizzierte auf weit über tausend Seiten den weltweiten Untergang und beschwor den Präsidenten, den Weltenzeiger um fünf Minuten zurückzustellen. Das Sze nario der ökologischen, demographischen und sozialen Katastrophe hat damals viele Menschen aufgerüttelt. Es war getragen von einem beispiellosen Aufklärungsenthusiasmus: Das minutiös aufgelistete Zahlenarchiv über Bevölkerungswachstum und Rohstoff erschöpfung, über Klimaveränderungen und technologischen GAU zeugen vom Glauben, dass Wissen Veränderung zu provozieren imstande sei. Die auf die reine Zahl gebrachte Katastrophe hatte etwas ähnlich Magisches wie das zu abzusolvierende Millennium, für das diese Zahlen geschrieben waren.

Allerdings waren Begriffe wie Armut und Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und atomare Bedrohung vor zwanzig Jahren noch imstande, Massen zu mobilisieren. Es gab noch so etwas wie den Konsens einer kollektiven Verantwortung, für das ein - freilich wechselndes - Kollektivsubjekt - ein "Wir", das heutzutage nur noch ironisch auftritt - einstand. Dieses großgeschriebene "wir" konnte schon mal auf die Straße gehen und symbolisch Macht demonstrieren; so lange jedenfalls, wie es noch eine Referenzadresse gab: "die" Politiker, "die" Unternehmer, "die" Männer. Und "wir" nahmen selbstverständlich an, auf der richtigen Seite zu stehen.

Das Ende der Utopien fiel bekanntlich mit dem prognostizierten Ende der Geschichte zusammen; nicht erst im Jahr 2000. Vier Jahre nach dem Erscheinen des Untergangsberichts aus dem amerikanischen Außenministerium hielt an der Freien Universität Berlin ein als Querdenker bekannter französischer Philosoph und Publizist einen Vortrag mit dem Titel "L'an 2000 ne passera pas", das Jahr 2000 findet nicht statt. (Bezeichnenderweise wurde aus der im Französischen nur prophezeiten Annahme in der deutschen Übersetzung eine unumstößliche Tatsache: Im Deutschen neigt man dazu, statt in Entwicklungen begrifflich und substanziell zu denken.)

Die ganze Geschichte, behauptete Jean Baudrillard damals, sei begleitet von einer millennaristischen Herausforderung, der Herausforderung ihrer Zeitlichkeit. Einerseits werde die mäandernde Geschichte linear vorgestellt und vom Ergebnis her interpretiert: Geschichte als nachgetragene Sinnkonstruktion, oder wie es der Pessimist Theodor Lessing formulierte: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Zum anderen jedoch gebe es die beschleunigte Zeit, jene, die nicht die langen Umwege und Irrtümer gehen, sondern, kondensiert, schnell ans Ende kommen will. Der historischen Perspektive, so Baudrillard weiter, stehe eine fatale Zeitstrategie gegenüber, eine, "die Etappen überspringen, die Zeit tilgen und das Jüngste Gericht gleichsam kurzschließen will."

Wenn man so will, sind die historischen Revolten und Revolutionen, die Askese und der Selbstmord, vorweggenommene säkulare Gottesurteile. Wer nicht abwarten will oder kann, bis die Geschichte vollendet ist, muss sie überlisten und das Ende simulieren. Global 2000, der Bericht an den Präsidenten, war vorauseilender Gehorsam an das Ende der Geschichte, das es aufzuhalten, hinauszuzögern galt. Mit dem unausgesprochenen Wissen, bereits zu spät zu kommen. Man hätte sich die neunziger Jahre auch schenken und ohne Umwege auf den Höhepunkt zusteuern können. Eben das hatte Baudrillard vorgeschlagen, um den künftigen musealen Inszenierungen zu entgehen.

Denn in den achtziger Jahren war das ökologische Szenario bereits so irreversibel wie der vorläufige Untergang der Jahrhundert-Utopie, der Sozialismus. Der "neue Mensch" hat historisch so gründlich abgedankt, dass er, wenn überhaupt, nur noch im Labor simulierbar erscheint. Seine "Programmierung" erkennt nicht mehr die Schmerzimpulse, die der sozialistische "neue Mensch" so verlustreich austreiben mußte. Und in seinen geklonten Ausführungen enthebt dieses imaginierte Kunstprodukt von der Referenz an das Eine und das Wahre und damit von der historischen Aktion. Wer kann heute schon noch sagen, auf welcher Probebühne da gespielt wird, wer die Horatier und wer die Kuratier sind?

Eines der letzten historischen Ereignisse dieses überflüssigen Jahrzehnts, Altkanzler Kohl, zerfällt in diesen Tagen "halbwert" und landet im Papierkorb. Ein Mann von Masse und Klasse, der der Zeichentilgung zum Opfer fällt. Die neunziger Jahre, während der er seinen Zenit erreichte, werden annulliert, und der Mann, würde Baudrillard sagen, zeigt zu wenig Reue, ihm fehlt die Einübung in den postmodernen Spannungsabfall und die Nullpunkt-Philosophie. Zum Millennium hätte er auf Amnes(t)ie vertrauen sollen.

Für die "elliptische Abkürzung" ist es nun zu spät. Diesmal ist es definitv fünf vor zwölf auf den Weltenuhr: Das Menetekel der Achtziger ist Wirklichkeit geworden. Die Angst vor der Löschung der Festplatte, vor dem Absturz aus der Geschichte, der man doch gerade hatte entkommen wollen, ist virulent wie ein Virus. Man sollte den europäischen Währungshütern danken, dass sie den Wechsel der europäischen Valuta nicht auf dieses Datum gelegt haben; so bleibt eine letzte, verbindliche Referenz.

Die Ära der Schwerelosigkeit und die Entlastung von utopischen Entwürfen, die das 21. Jahrhundert verspricht, wollte unser Gewährsmann Baudrillard übrigens im gravitationsfreien Weltraum einläuten, an einem symbolischen Treffpunkt. Wie wäre es mit jener u-topia, wo unlängst die amerikanische Marssonde verschwunden ist bei ihrer Mission, der sinnbefrachteten Erde zu entkommen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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