Liebe Tochter, glaube nicht, dass mir dieser Brief leicht fällt, obwohl ich deine Mutter bin. Obwohl ich deine Mutter bin, habe ich mich über die äußerliche Aufmachung deines Briefes geärgert. Was fällt dir ein. Auf der Rückseite des Couverts ein Photo mit nackten Tierschützerinnen und Tierschützern, mit künstlichen Braunbärköpfen. Die Tierschützerinnen und Tierschützer liegen unappetitlich übereinander. Und du forderst mich auf, eine Maus zu suchen. Frage mich nicht, mit welcher Scham.
Ich musste jetzt das Fenster öffnen, ich brauche Luft. - Ich kann und will dieses Photo nicht zum Anlass nehmen, mit dir über eventuell begangene Erziehungsfehler zu reden. Das Geschlechtliche gehört in keinen Briefwechsel zwischen Mutter und Tochter. Dessen solltest du dir bewusst sein.
Ich muss das Fenster wieder schließen, die Müllabfuhr macht einen dermaßenen Radau.
Ich gebe zu, du durftest deine Mutter nie sehen. Ich frage dich, muss eine Tochter ihre Mutter nackt sehen? Ist der Schaden, den die Tochter dabei davonträgt, nicht größer als ihr Vergnügen? Dass du mich für Fehlentwicklungen in deinem Geschlechtsbereich verantwortlich machen willst, bringt mich auf die Palme. Mit einem einfachen "denk drüber nach, Mutti" ist es nicht getan. Du schiebst mir den Schwarzen Peter zu. Warte bitte, ich gehe rasch auf die Toilette.
Jetzt bin ich wieder da. Aber lassen wir das. Du schreibst deinen Brief in aller Öffentlichkeit. Genauer gesagt in einem Café an der Spree, am Paul-Lincke-Ufer. Dort gibt es sehr viele Türken. Ja, ist dir überhaupt klar, dass Paul Lincke am 7. November 1866 in Berlin geboren wurde und am 3. September 1946 in Clausthal-Zellerfeld (Harz) starb? Du schreibst nicht, wie du zum Paul-Lincke-Ufer gekommen bist. Mit der S-Bahn? Mit dem Fahrrad? Es bleiben Fragen offen. Meine roten Flecken melden sich wieder. Ich war der Meinung, du würdest nun, wenn du schon in einem Café sitzen musst, deiner Mutter berichten, wie du dir deine Zukunft vorstellst. Ich bin enttäuscht. Stattdessen fertigst du mich mit Nichtigkeiten ab. Zum Beispiel "Ich sitze gerade unter einer grünen Weide, man hört die Autos rauschen, aber man sieht sie nimmer". Und dann wieder "im Schatten einer aus- und einladenden Linde". Autos rauschen nur in deiner Phantasie, das weißt du so gut wie ich. Deine Phantasie lenkt dich von Problemen der Zeit ab. Deine Konzentration lässt zu wünschen übrig. Einmal lese ich "Weide" und einmal "Linde". Für welchen Baum soll sich deine Mutter entscheiden? Ich muss erst einmal etwas gegen die roten Flecken tun. Ich zwinge mich zur Gelassenheit. Du schreibst "ein Schwan zieht vorüber, später zwei Enden". Du meinst wohl Enten mit "t" geschrieben? Das ist wieder deine mutwillige Art, Wörter zu verstümmeln. Oder soll deine Mutter etwa über die Enden lachen?
Ich habe gerade stilles Wasser zu mir genommen, so setzt du mir zu. "Schwan und Enten haben alle Zeit der Welt, beziehungsweise gar kein Bewusstsein von Zeit, weswegen sie sich glücklich schätzen dürfen, was sie natürlich auch nicht tun, weil sie auch das nicht müssen. Sie sind aus dem Schneider. Ich nicht, deshalb bin ich wieder bei der Psychologin."
Liebe Tochter, ich werde dir etwas erzählen. Neulich war ich am Stausee. Dort lagen als Schwäne getarnte Wassertreter. Sofort wollte ich einen von beiden benutzen, aber das war nicht möglich. Der Schwan war voller Regenwasser, sogar die Sitze waren feucht. Schade. Es war ein Sonntagnachmittag. Die zwei stolzen Schwäne beherrschten den kleinen Stausee. Ich habe dann noch Kaffee getrunken und bin nach Hause gegangen. Das ist eine Geschichte voller Leben. Auf meinen Kaffee muss ich jetzt, übrigens deinetwegen, verzichten. Ich bin schon aufgeregt genug. Anstatt deine Probleme offen und ehrlich auf den Tisch zu legen, streust du deiner Mutter Sand in die Augen. Ich weiß, wovon ich rede. "Es fährt ein Dampfer vorbei, ein flacher, mit Grauköpfen." Diese Grauköpfe haben sich, im Gegensatz zu dir, den Lebensabend auf einem Dampfer verdient. "Wieder fährt eine Yacht vorüber. Das Oberdeck ist überdacht und leer, bis auf zwei Damen ... Jetzt ein Schlauchboot mit sieben Herren." Lügst du auch nicht? Ein Schlauchboot fasst niemals sieben Herren. Du bindest deiner Mutter einen Bären auf.
Ich habe nun doch Kaffee getrunken. Aber frage mich nicht nach meinem Blutdruck. Jetzt muss ich aber lachen. "Die Psychologin hat über meine neue Frisur gelacht." Und dann gleich "Ich habe mir in der Sonne die Flügel verbrannt." Ja bist du ein Tier, dass du deine verbrannten Arme als Flügel bezeichnen musst?
Kraut und Rüben, Kraut und Rüben. Jetzt hast du es geschafft. Ich habe mir eine Zigarette angebrannt. Die erste seit sieben Jahren. Alles musst du in den Schmutz ziehen. Ich könnte deinen Brief in Stücke reißen. Ich kann mich beherrschen. Und du hast nicht einmal gefragt, wie es deiner Mutter geht. Das ist das Beschämendste. Und nenne mich nicht immer Mutti.
Ulrike Metsk, 1947 in Potsdam geboren, studierte Theologie (nicht ganz zuende), besuchte die Schauspielschule, arbeitete als Puppenspielerin in Bautzen. Jetzt macht sie Theater mit arbeitslosen Deutschen und Spätaussiedlern.
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