Der Boden Venezuelas ist kontaminiert von Hass und Gewalt, Entbehrung und Not. Doch bleibt der hier ersehnte, dort befürchtete Umsturz weiter aus. Mehren sich die Anzeichen für einen Bürgerkrieg, seit der selbsternannte Präsident Juan Guaidó mit einem Putschversuch die Entscheidung erzwingen wollte?
der Freitag: Herr Lamata, seit dem 30. April scheint eine friedliche Lösung der Krise in Venezuela entfernter denn je. Wie sehen Sie den von Guaidó ausgehenden Versuch eines Staatsstreichs?
Luis Alberto Lamata: Ja, es stimmt, Verhandlungen erscheinen derzeit schwierig, auch wenn sie der allein vernünftige Weg sind. Das andere führt in den Bürgerkrieg oder zur Invasion. Freilich ist die Opposition in Venezuela weit davon entfernt, homogen zu sein. Hinter Guaidó und dem misslungenen Putsch steht die extreme Rechte. Umso mehr sollten jetzt andere, hellere Sektoren der Opposition die Initiative ergreifen und in den konstitutionellen Rahmen zurückfinden, wenigstens eine Zeitlang. Leider sehe ich am Horizont keinen Frieden. Es soll ein für allemal mit dem „schlechten“ und antiimperialen Beispiel der Bevölkerung Schluss gemacht werden.
Zur Person
Luis Alberto Lamata, 59, arbeitet seit 1982 in Caracas als Regisseur und Produzent von Spiel- und Dokumentarfilmen sowie Telenovelas. Seine bekanntesten Streifen sind Miranda regresa (2007), El enemigo (2008) Bolivar, el hombre de las dificultades (2013). Aus gezeichnet wurde er mit Preisen u.a. auf Filmfestivals in Biarritz, Cartagena, Havanna und Montreal
Wie haben Sie den 30. April wahrgenommen?
Trotz der schwierigen Wirtschaftslage ist es der Opposition nicht gelungen, sich mit dem Unbehagen in der Bevölkerung zu verbinden. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eines sagen: Beim Versuch eines Staatsstreichs geht es nicht allein um eine militärische, sondern ebenso die Frage: Wie fällt die aktive Präsenz Hunderttausender auf den Straßen ins Gewicht, die bereit sind, die Revolution zu verteidigen? Es ist schwierig, das zu beantworten. Nur glaube ich, würde man die Angelegenheit nur als Problem korrelierender Kräfte im Militär sehen, wäre damit ein polarisiertes Land übergangen, das bereit ist, in beiden politischen Lagern zu kämpfen.
Trotzdem geht der Alltag der Menschen weiter.
Schwierig und surrealistisch mitunter, aber er geht weiter. Die Mehrheit sehnt sich nach Frieden und materieller Ruhe. Die Regierung muss daher den Wirtschaftskrieg gewinnen. Bisher hat sie stets den politischen Krieg gewonnen, aber die Wirtschaftssabotage nicht besiegt.
Welche Konsequenzen hat die Haftentlassung des Oppositionspolitikers Leopoldo López?
Der verließ das Gefängnis ziemlich unrühmlich. Die Türen wurden ihm in komplizenhafter Weise von den Wärtern geöffnet, wie man das von Drogenbaronen her kennt. Die Führung der Rechten ist im Moment etwas verwirrt. Die Figur Guaidó löst sich in Fehlern und Voluntarismen auf, indem sie den Weg von López wiederholt.
Wie behält man den Überblick, wenn sich die Ereignisse derart überschlagen, wie das zuletzt oft der Fall war?
Venezuela steht im Zentrum einer Konfrontation, die unverschleiert über die Landesgrenzen hinausreicht. Ich sage „unverschleiert“, weil in den vergangenen 20 Jahren schwere interne Spannungen ohne die offensichtliche Einmischung anderer Länder bewältigt wurden. Da aber die Revolution – sei sie nun geglückt oder nicht – von innen her nicht geschlagen werden konnte, muss das nun von außen geschehen. Die Hegemonie der USA sieht sich herausgefordert und hat den Weg der arroganten Konfrontation gewählt.
Weil es nicht zuletzt um Öl geht.
Es wäre naiv zu glauben, dass das Schicksal eines Landes, das täglich eine bedeutende Menge Öl in die Welt pumpt, jene nicht interessiert, die auf einem nach Energie dürstenden Planeten die Fäden ziehen wollen. Dies gilt umso mehr, als es sich mit Venezuela um ein „schlechtes Beispiel“ handelt, das Einfluss auf das restliche Lateinamerika hatte, auf einige ungehorsame und in ihrem Populismus vielleicht auch fragwürdige Regierungen. Die waren immerhin bereit, ihre nationalen Interessen energischer als diejenigen zu verteidigen, die dem neoliberalen Katechismus folgten. Genau darauf beruht die Tobsucht der Aggression, das große internationale Kapital duldet keinen Ungehorsam.
Erlauben Sie mir eine persönliche Erinnerung: Als Kind ging ich in eine nordamerikanische Grundschule. Im Geographiebuch, das ich liebte, gab es vor jedem Kapitel eine Zeichnung, die das behandelte Land charakterisieren sollte. Bei Venezuela war es die populäre Figur des Juán Bimba, gekleidet wie die Mehrheit unserer Bauern: auf dem Kopf ein Cogollo-Hut (traditioneller Strohhut – d. Red.), an den Füßen Espadrilles (Schlupfschuhe – d. Red.). Die Figur hielt den Schlauch einer Zapfsäule in den Händen. Unterwürfig lächelnd füllte sie den Bundesstaat Maine mit Öl – full tank.
Vor Wochen führte der Streit um Hilfslieferungen zu einer noch stärkeren Isolation Ihres Landes. Wie denken Sie darüber?
Gegenfrage! Wieso diese Dringlichkeit für Venezuela? Wieso keine Hilfe für Haiti, Gaza oder Jemen? Oder für all jene, die im Mittelmeer ertrinken? Gibt es keine humanitäre Notwendigkeit in Kolumbien, Ecuador, Peru oder Argentinien? Gibt es nicht Millionen Menschen weltweit, die keinen Zugang zu Medikamenten oder Nahrungsmitteln haben? Es sind doch nicht diese paar Pakete, die ein Problem lösen, das zweifellos schwerwiegend ist! Einen freien Zugang zu Arznei- und Lebensmitteln auf dem internationalen Markt – das benötigen wir statt der Sanktionen! Hunger und Mangel waren schon immer Waffen, um einen umzingelten Feind zu belagern. Warum Hilfspakete nicht über das Rote Kreuz schicken? Nein, diese Hilfe war keineswegs neutral, dahinter steckte eine unverfrorene interventionistische Absicht. Wenn ich das sage, geht das über eine politische Position hinaus, die man angesichts der Licht- und Schattenseiten der Revolution einnehmen kann.
Die desaströse Wirtschaftslage resultiert nicht nur aus internationaler Blockade, sie geht auch auf interne Probleme und das zurück, was der Schriftsteller Humberto Mata bereits 2014 einen „schleichenden Putsch“ nannte.
Seit nunmehr 20 Jahren greifen die großen nationalen Unternehmen, die Nahrungsmittel und andere Konsumgüter produzieren, zum Mittel künstlicher Teuerungen, die kurz vor Wahlen nochmals akzentuiert werden. Dazu kommt das Gift der Hyperinflation. Diese Geldentwertung wird durch einen manipulierten Dollar zusätzlich angetrieben. Inwieweit die Wirtschaftspolitik der Regierung dafür mitverantwortlich ist, lässt sich nur schwer beantworten, aber sicher in einem nicht unbedeutenden Maße. Ein friedliches Ambiente zu schaffen, damit geleistete Arbeit Wertschätzung findet, das scheint mir nötig, damit unser Land genesen kann.
Wie soll das erreicht werden?
Durch inneren Frieden, der nur über Verhandlungen möglich ist, die sich an der Verfassung orientieren. So lange die Opposition antidemokratischen Tendenzen folgt und eine Lösung lediglich über Gewalt und Repression sucht, bleibt der Frieden bedroht.
Was dachten Sie, als Juan Guaidó relativ schnell von vielen Staaten als Interimspräsident anerkannt wurde?
Die USA erkannten ihn mindestens einen Tag vor seiner offiziellen Selbsternennung an – das erklärt alles. Die EU hat sich, wie es der katalanische Politiker Josep Borrell formulierte, mit der Anerkennung „ein Problem geschaffen, das in keinem Nachschlagwerk der Außenpolitik zu finden ist“.
Doch scheint Guaidó viele Anhänger zu haben.
In der Mittel- und Oberschicht, die seit Jahren die Regierung bekämpft. Guaidós Meetings bleiben auf deren Wohn- und Geschäftsviertel beschränkt, weit weg von den Arbeiterquartieren. Das heißt nicht, dass es dort keine Unzufriedenheit mit dem alltäglichen Leben gäbe. Aber noch ist es weder durch Putschversuche noch internationalen Beistand für Guaidó gelungen, eine Mehrheit zu überzeugen.
Was stellt Guaidó für Sie dar?
Die Kontinuität jenes Teils der Opposition, die nicht an Demokratie glaubt, es sei denn, sie kann diese manipulieren wie beim Ölstreik 2002 oder den gewalttätigen „Guarimbas“ (Straßenkämpfe – die Red.) von 2014.
Wie geht es dem venezolanischen Film in diesen Zeiten?
Keiner kann bezweifeln, dass die Revolution dem Film bislang nie erlebte Impulse gegeben hat. Niemals zuvor wurden so viele und so verschiedene Streifen produziert. Natürlich setzt die ökonomische Misere auch der Filmproduktion heftig zu. Das staatliche Filminstitut CNAC hält sich unter anderem mit einem kleinen prozentualen Anteil an den Kino-Einkünften aufrecht. Nur gehen momentan immer weniger Leute in die Lichtspielhäuser.
Wie stehen Sie zum CNAC, dem von der Opposition nichts Gutes nachgesagt wird?
Solange ich Unterstützung finde, die von keinem anderen Kriterium bestimmt wird als dem kinematografischen, und meine Projekte selbstständig betreiben kann, ist für mich die Partizipation des Staates fundamental. Bisher habe ich meine Filme zumeist unabhängig finanziert, bestenfalls über eine minimale Koproduktion mit dem Staat. Ich lasse mich nicht verängstigen, weder von den Inquisitoren der Rechten noch den falschen Kommissaren der Linken.
Würden Sie jetzt einen Film über Venezuela drehen, wie lautete sein Titel?
Mir fällt spontan nur ein Song der Beatles ein: „The Long and Winding Road“.
Charaktere der Krise in Venezuela
Nicolás Maduro (56),

Foto: Getty Images, Imago Images
seit dem Tod von Hugo Chávez am 5. März 2013 Staatschef Venezuelas, im Vorjahr durch eine vorgezogene Neuwahl im Amt bestätigt. Vor seiner Präsidentschaft war Maduro von 2006 bis 2013 Außenminister.
Delcy Rodríguez (49),

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seit Juni 2018 als Vizepräsidentin enge Vertraute von Staatschef Maduro. Sie koordiniert den Geheimdienst SEBIN und gehört der regierenden Sozialistischen Partei (PSUV) an.
Maikel Moreno (53),

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seit 2015 Präsident des Obersten Gerichts. Kurz darauf wurde er durch die USA und EU mit Sanktionen belegt. Am 3. April 2019 entzog er Oppositionsführer Guaidó die parlamentarische Immunität.
Vladimir Padrino (55),

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Oberkommandierender der Bolivarischen Streitkräfte und Verteidigungsminister. Er gilt als „Nr. 2“ hinter Maduro, dem er bisher loyal gedient hat. Studium u.a. in Fort Benning/USA.
Diosdado Cabello (56),

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führt seit 2018 dieVerfassungsgebende Versammlung, Gegenstück zu dem durch die Opposition beherrschten Parlament. Cabello war Militär, mit Hugo Chávez befreundet und mehrfach Minister.
Jorge J. Rodríguez (53),

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Bruder der Vizepräsidentin und Minister für Kommunikation und Information. Unter Hugo Chávez war er 2007 kurzzeitig Vizepräsident und leitete zuvor die Nationale Wahlbehörde CNE.
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