In einen weißen Anzug mit Hemd und Krawatte gekleidet – wie ein ehrwürdiger Patron – steht der indigene Aktivist Ailton Krenak vor den Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung in Brasilia. Während er in seiner Rede eine Garantie für die Rechte der Indigenen einklagt, reibt er sich Gesicht und Hals mit einer schwarzen Farbe ein, die Brasiliens Ureinwohner für ihre traditionellen Körperbemalungen aus der Frucht des Jenipapo-Baums gewinnen. Dieser Auftritt im Jahr 1987 gilt bis heute als legendär und maßgeblich dafür, unverletzbare Grundrechte für die ursprüngliche Bevölkerung in der brasilianischen Verfassung von 1988 zu erwirken. Seinerzeit haben im Kongress Vertreter aus dem rechten und linken Lager gleicherma&
Reparatur lohnt nicht mehr
Brasilien Der indigene Aktivist Ailton Krenak ruft zum radikalen Wandel auf, um ein Ende der Welt zu vermeiden

Ein Aktivist der Kayapó beim Protest gegen die Diskriminierung Indigener im Bundesstaat Pará, August 2020
Foto: Carl de Souza/AFP/Getty Images
maßen dafürgestimmt.Über drei Jahrzehnte später gehört Ailton Krenak weiter zu den wichtigsten Stimmen der indigenen Bewegungen seines Landes. Er konzentriere sich nach wie vor „auf die Realität der indigenen Völker“. Mittlerweile habe man Allianzen mit anderen Waldgemeinschaften wie Bewohnern der Flussufer aufgebaut. Zudem sei bereits in den 1980er Jahren mit dem Umweltaktivisten Chico Mendes – er wurde Ende 1988 von Großagrariern ermordet – die „Allianz der Waldvölker“ gegründet worden. „Heute dehnt sich diese Verbindung mit den Quilombolas genannten Afrobrasilianern und breiten sozialen Bewegungen auf andere ethnische Beziehungen aus, besonders auf dem Land“, erzählt der aus dem Volk der Krenak stammende Aktivist.Bedrohter LebensraumBisher ist es brasilianischen Regierungen nicht gelungen, die Diskriminierung indigener Völker und anderer sozialer Randgruppen einzudämmen. „Im Alltag leiden diese Gemeinschaften unter staatlichem Rassismus, der durch Vormundschaft und diskriminierende Behandlung beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung zum Ausdruck kommt“, so Ailton Krenak. Dabei wird das Jahr 2019 als alarmierender Höhepunkt struktureller Gewalt gegen Kleinbauern und die indigene Bevölkerung betrachtet, die sich vor allem gegen ihre Führer richtete. Auch wenn diese Konflikte in Brasilien nie gebannt waren, ist es offensichtlich, dass sie unter dem ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro seit dessen Amtsübernahme 2019 noch zugenommen haben. Für Krenak ein Grund mehr, aktiv zu bleiben. Gerade angesichts der Drohungen, die von der Regierung gegen Persönlichkeiten wie Sônia Guajajara, die Exekutivkoordinatorin des Verbandes der Indigenen Völker Brasiliens, und den Waldschützer Almir Surui laut wurden, werde man nicht aufhören, die Verletzung indigener Rechte anzuprangern.Auf dem Subkontinent gibt es laut einer Studie der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) sowie des Entwicklungsfonds der Indigenen Völker Lateinamerikas und der Karibik (FILAC) 58,2 Millionen Menschen, die insgesamt 800 Ethnien zugeordnet werden und etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Auch wenn der Anteil in Brasilien mit circa 985.000 Personen relativ gering ausfällt, zeigt die Zahl von 305 Ethnien – verglichen mit anderen Ländern des Subkontinents – doch eine erkennbar größere Vielfalt. Es sei aber schwierig, genaue Daten zu erhalten, was hauptsächlich, so die Studie, mit der demografischen Fragilität in Ländern wie Brasilien, Kolumbien, Bolivien oder Peru zu erklären sei. Verursacht werde dieses Phänomen durch eine sozioökologische und territoriale Verwundbarkeit, durch Zwangsumsiedlungen, knappe Nahrungsmittel, verschmutztes Wasser, abgetragene Böden und hohe Sterblichkeit. Ailton Krenak geht für sein Land von gut 900.000 registrierten indigenen Personen aus. Sie sprächen annähernd 150 Sprachen und Dialekte und seien auf 250 Ethnien verteilt. Wegen des strukturellen Rassismus im öffentlichen Leben und alltäglicher Gewalt müssten die indigenen Gesellschaften weiterhin um ihren Lebensraum kämpfen, trotz der verfassungsrechtlichen Anerkennung indigenen Territoriums!Placeholder infobox-2Ihre Reservate werden nicht allein von Naturkatastrophen bedroht, sondern auch durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Holz und Mineralien oder durch (legale oder illegale) Rodung großer Waldflächen für die extensive Landwirtschaft. Erinnert sei nur an die verheerenden Brände von 2020 im brasilianischen Biosphärenreservoir Pantanal, die teilweise auf das Wetterphänomen „La Niña“, ebenso auf vorsätzliche Brandstiftung zurückgingen. Allein im Jahr 2020 wurden dadurch 9.125 Quadratkilometer Wald eingebüßt. Da es sich um eine Steigerung von über 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr handelte, stellten Umweltschützer fest, dass die Abholzung außer Kontrolle geraten sei. Diese Einschätzung wurde nicht zuletzt von Márcio Astrini vertreten, dem Exekutiv-Sekretär der brasilianischen Nichtregierungsorganisation „Observatório do Clima“. Neben der Brandrodung bedrohten illegale Eindringlinge, Goldsucher und Viehhalter die Schutzgebiete der Indigenen. Die Folgen territorialer Verluste sind für diesen Teil der Bevölkerung tiefgreifender, als Außenstehende es sich vorstellen können.In seinem mittlerweile auf Deutsch vorliegenden Buch Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen hat Ailton Krenak auch davon erzählt. Als Beispiel dient ihm sein am Doce-Flusstal gelegener Geburtsort, der stark vom Bergbau betroffen ist. Dort kam es 2015 zu einem Unfall, den das multinationale Bergbauunternehmen Samarco zu verantworten hatte. Krenak dazu: „Der Rio Doce, den wir ‚Krenak Watu‘ nennen – ‚unser Großvater‘ – ist eine Person und keine Ressource, wie ihn Ökonomen nennen. (…)Watu, der unser Leben am Ufer des Rio Doce zwischen den Staaten Minas Gerais und Espírito Santo ermöglicht hat, ist auf einer Länge von 600 Kilometern mit toxischem Schlamm verseucht, der aus einem Rückhaltebecken für Klärschlamm stammt und uns zu Waisen gemacht hat, die an einem im Koma liegenden Fluss leben.“Bis heute ist kein Leben in den Fluss zurückgekehrt. „Wenn wir dem Fluss und dem Berg keine Persönlichkeit mehr zugestehen, sie ihrer Sinne berauben und meinen, dies sei ein ausschließliches Merkmal des Menschen, entledigen wir uns dieser Orte und machen sie zu Abfällen der industriellen Ausbeutung“, so Ailton Krenak. Das Dilemma der aktuellen Lage des Planeten Erde führt er auf eine gestörte Beziehung der Menschheit zur Natur zurück. „Für lange Zeit waren wir eingelullt von der Geschichte und dem Glauben, wir seien die Menschheit. Wir haben uns dadurch von dem Organismus entfremdet, zu dem wir gehören – der Erde. Wir dachten, die Erde sei eins und wir etwas anderes. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas anderes gibt als Natur. Alles ist Natur. Der Kosmos ist Natur. Alles, was ich denken kann, ist Natur.“ Mit diesem Ansatz steht Krenak dem deutschen Philosoph Andreas Weber nahe, der in seinem Essay Enlivenment. Eine Kultur des Lebens (2016) nicht nur Bezug auf indigene Völker nimmt, sondern auch versucht, Mensch und Natur „neu zu denken, indem alle Wesen als Teilnehmer eines gemeinsamen Haushaltens von Stoff, Begehren und Imagination“ verstanden werden, so Weber.Krenak glaubt, weil der Klimawandel niemanden verschone, könne das weltweit zu einem Umdenken führen. Es entstehe „langsam, wenn auch spät, die Erkenntnis darüber, dass sich die ursprünglichen Völker an unterschiedlichen Orten der Welt noch sehr wertvolle Lebensweisen erhalten haben, die möglicherweise geteilt werden können – auch sie sind bedroht“.Global Green New DealDaher ist für Krenak völlig klar, dass wir uns radikal neu erfinden müssen, um auf der Erde weiter existieren zu können. „Aber für viele innerhalb der westlichen Erkenntnistheorie ist die Vorstellung einer anderen Welt schlicht die einer in Ordnung gebrachten kapitalistischen Welt: Man nehme die Welt, bringe sie in die Werkstatt, tausche das Fahrgestell aus, die Windschutzscheibe, richte ein bisschen die Achse und bringe sie wieder zurück auf die Straße. Eine alte, verkommene Welt in neuem Gewand. Ich bin definitiv nicht bereit, meinen Beitrag zur Begleichung dieser Rechnung zu leisten: Für mich lohnt sich keine Reparatur mehr.“Es ist zu vermuten, dass der Umweltaktivist vor diesem Hintergrund dem „Global Green New Deal“ wenig abgewinnen wird. Darauf kurz nach dem Klimagipfel, zu dem Präsident Biden jüngst 40 Staats- und Regierungschefs geladen hatte, angesprochen, sagte Krenak: „Die indigenen Völker bleiben bei diesem typisch kapitalistischen Arrangement außen vor, da es die Aufgabe hat, die zunehmend gefährdeten Ökonomien und deren Märkte zu retten, und nicht das Klima oder irgendeine andere sozioökologische Realität auf dem Planeten. Ich sehe eine ernsthafte Besorgnis der globalen Leader, die das Risiko für die Grundlage ihrer Volkswirtschaften erkennen. Doch worum geht es dabei? Um eine weitere Wiederaufnahme des Wirtschaftswachstums und wenig Aufmerksamkeit für die Wiederherstellung des Planeten.“Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1