Zwei winzige schwarze Silhouetten kreisen am Himmel über den alten Eichen am Elbdeich. Mein Bruder bremst, fällt dabei fast vom Rad und reißt das Fernglas vor die Augen. Wer mit einem Ornithologen auf Radtour geht, sollte wissen, worauf er sich einlässt.
"Rauhfußbussard, sehr schön", konstatiert er zufrieden. Es ist windig, und ich weiß nicht, wie er auf Anhieb den Rauhfußbussard von seinem häufigeren Verwandten, dem Mäusebussard, unterscheiden kann. Im Bestimmungsbuch steht, man könne beim Rauhfußbussard am hellen Unterflügel einen schwarzen Fleck in der Nähe des Körpers erkennen, außerdem habe er längere, etwas schmalere Flügel und einen hellen Schwanz mit dunkler Endbinde. Mein Bruder ist Biologe und fühlt sich durch so etwas bis heute in seinem Stolz als Naturwissenschaftler herausgefordert, ich nehme selbst mit Fernglas nur so eine Art Fliegenschiss am Himmel wahr und bekomme kalte Hände.
Vögel lösen seit jeher starke Assoziationen beim Menschen aus und es gibt, aus unserer Perspektive, mindestens drei Sorten von ihnen: sie können fliegen, sie könnten oder sie hüpfen gezwungenermaßen am Boden. Wildvögel sind unnahbar, flüchtig und entziehen sich dem Zugriff, während Ziervögel eingesperrt der dekorativen Verschönerung des menschlichen Alltags dienen. Dem Geflügel ist das Gefieder gestutzt, es steht im Dienst des Menschen, sein Lebenszweck unterliegt unserer Definitionshoheit und meistens endet es auf dem Teller. Nach allem, was wir über Vogelgrippe wissen, ist der unfreieste Vertreter der Gattung, das Geflügel, gefährdet durch diejenigen, die von jeher als Freiheitssymbol gelten: durch die Wildvögel.
Während die Geflügelzüchter in heller Aufregung sind, bleiben die Ornithologen bis jetzt ganz ruhig, denn nach den Vogelleichen auf Rügen - so scheint es - wird bei den Wildvögeln mittlerweile auch nicht mehr gestorben als sonst.
"Es gab und gibt immer Krankheiten in der Vogelwelt, niemand geht von einer ernsthaften, bestandsbedrohenden Gefährdung der Wildvögel aus", sagt mein Bruder. Mehrere hunderttausend Menschen in Deutschland sind wie er sogenannte "Vogelgucker", viele von ihnen sind in Vereinen zusammengeschlossen, viele gehen ihrem Hobby allein nach und entziehen sich damit jeder Statistik. Inzwischen verkauft die optische Industrie mehr Ferngläser an Vogelfreunde als an Jäger, in Amerika erfreut sich die Ornithologie als Hobby immer größerer Beliebtheit, wohl auch weil man ihm vom Auto aus nachgehen kann. Touristische Angebote zur Vogelbeobachtung und die Ausrüstungsbranche boomen, in Deutschland gibt es neuerdings eine Zeitschrift mit dem sinnigen Namen Vögel am Kiosk zu kaufen.
Vögel sind ideal für eine Liebe auf Distanz", sagt mein Bruder. Er muss es wissen, denn mit Distanz kennt er sich aus. Wer eine Leidenschaft für Vögel entwickelt, kann sicher sein, dass die Objekte seiner Passion ihn stets in Ruhe lassen werden. Hunde springen an uns hoch und wackeln mit dem Schwanz, Katzen schmiegen sich an und beide meinen in ihrer Anhänglichkeit eigentlich nur die Futterdosen im Kühlschrank. Vögel fressen uns selten aus der Hand und am Ende flattern sie immer davon.
Doch ausgerechnet was die größte Faszination ausmacht, wird in Zeiten der Vogelgrippe zur Bedrohung. Die Störche zum Beispiel, die sich in Afrika genau so gut auskennen wie in norddeutschen Marschlandschaften, sind im übertragenen Sinn immer schon Kosmopoliten gewesen. Gerade das macht sie gefährlich.
"Wer Vögel einsperrt, hat sie missverstanden", sagt mein Bruder weiter und macht ein bedrücktes Gesicht. Er hat Recht. Vögel in Vogelbauern sind eine traurige Erfindung. Kanarienvögel und Wellensittiche wirken immer fremd, unglücklich und irgendwie dumm. Man sperrt Tiere in ein Gefängnis, hängt sich das ins Wohnzimmer und wartet darauf, dass sie singen. Ich kann keine schöne Idee dahinter entdecken. Andererseits sind Vögel - wenigstens manche - die einzigen Tiere, denen es möglich ist, die menschliche Sprache zu erlernen oder nachzuahmen. Man erinnere sich an den Papagei von Winston Churchill. Vor ein paar Jahren hat man von dem Vogel gelesen. Da war er knapp 100 Jahre alt und schon reichlich zerfleddert. Aber er sagte immer noch bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die Worte, die sein verstorbener Halter ihn einst gelehrt hatte: Fuck the Nazis.
300.000 Rassegeflügelzüchter gibt es in Deutschland, sie treffen sich auf Messen und Leistungsschauen und züchten Lieblinge mit bizarrer Namensgebung. Bergische Schlotterkämme, Appenzeller Spitzhauben und gar ein Deutsches Reichshuhn sind im Sortenverzeichnis zu finden - letzteres ist natürlich erst nach der Reichsgründung 1871 entstanden. Nachdem die Kleinstaaterei beendet, eine Fahne und eine Währung für die junge Nation gefunden waren, wollten sich die Geflügelzüchter wohl nicht lumpen lassen. Doch statt einheimische Rassen weiterzuentwickeln, kreuzten sie kurzerhand asiatische und mediterrane Rassen, niemand beschwerte sich über den Schwindel.
Heute in Zeiten der Vogelgrippe empören sich die Rassegeflügelzüchter auf ihrer Homepage über die "Aufstallungspflicht", die es ihnen untersagt, ihre Hühner in den Garten und die Tauben aus dem Schlag zu lassen. Anfang Mai haben sie am Brandenburger Tor für die Freiheit ihrer Tiere demonstriert. Und auch die Geflügelindustrie hat es schon erwischt: in Sachsen sind über 30.000 Puten, Gänse und Enten vorsorglich umgebracht (gekeult) worden, weil Tiere im Bestand erkrankt waren. Es wird nicht zum letzten Mal vorgekommen sein, und rundgesichtige Bauernfunktionäre fordern (wie immer) Unterstützung vom Staat. Natürlich ist die Stallpflicht auch für die Agrarwirtschaft ein Problem. Gänse weigern sich, Eier zu legen, wenn man sie in Ställe sperrt. Damit es nach Weihnachten nicht ein für alle Mal Schluss ist mit Gänsen in Deutschland, diskutiert man über Ausnahmegenehmigungen.
Als in den frühen achtziger Jahren die Meldungen über den Gift- und Medikamentencocktail in Hühnereiern aus dem Handel immer unerfreulicher wurden, ging auch mein Vater unter die Geflügelzüchter und besorgte sich eine Handvoll Zwerghühner samt Hahn. Wir wohnten in einer Kleinstadt und schon nach wenigen Wochen beschwerten sich die Nachbarn. Der Hahn krähte nämlich schon morgens um halb fünf, langanhaltend und oft, dann fiel er über die Hennen her und auch das machte einen ziemlichen Radau. Wir mussten ihn ruhig stellen. Problem: ohne Hahn keine Eier. Nur deshalb kam er nicht in die Suppe, sondern ins Dunkle. Jeden Abend packten wir ihn, wenn er einträchtig mit seinen Hennen auf der Stange im Hühnerstall döste, und sperrten ihn in eine finstere Kammer. Dort setzten wir ihn auf einen extra präparierten Sitz. Er übernachtete reglos und still und kleckste ein bisschen auf den Boden. Von nun an bestimmten wir, wann der Morgen für ihn und unsere Nachbarn anbrach. Gegen halb acht öffneten wir die Tür des Verschlages, der Hahn rannte auf den Hof - vor lauter Brüllen und Weiber-Vernaschen wusste er kaum, was er zuerst tun sollte, man wurde schon vom Zuschauen hektisch.
Natürlich müssen die Vögel für menschliche Projektionen herhalten. Nicht umsonst ist der Adler das meistgebrauchte Wappenmotiv - Größe, Kraft und vor allem die Unabhängigkeit des Tieres rufen Bewunderung hervor, er schmückt Denkmäler, Gebäude, Uniformen und manchmal sogar Helme. Ganz anders ist es mit den domestizierten Vögeln. Mit einem Huhn auf der Fahne hätte wohl niemand einen Krieg beginnen wollen.
Gegenwärtig verspeist der Deutsche durchschnittlich 10,9 Kilogramm Geflügelfleisch pro Jahr, das sind etwa 20 Prozent unseres Fleischkonsums. Aber das schützt die Tiere vor Verachtung nicht: seit jeher sind "dummes Huhn" und "blöde Gans" feststehende Redewendungen, kein Vogel taugt zur positiven Metapher für´s menschliche Wesen. Inzwischen hat der Mensch den Vögeln auch das Monopol des Fliegens genommen. Nur manchmal zeigen sie uns unsere Grenzen, etwa wenn eine Graugans in einer Flugzeugturbine verglüht und damit für einen Absturz sorgt. Auch wenn viele von uns inzwischen häufiger fliegen als Bahn fahren, bleibt der Weg durch die Luft für uns Menschen doch immer ein Kraftakt. Wenn wir uns vor Augen halten, wie sehr sich die Ingenieure anstrengen mussten, bis es so weit war, wie viel Technik, Kraftstoff, Schmutz und Krach nötig sind, um ein Flugzeug starten zu lassen, dann kommt die Demut beim Betrachten eines Mauerseglers fast von allein. Apropos Mauersegler. Mein Bruder berichtete mir neulich, dass dieser schwalbenähnliche Vogel kaum laufen könne und auch fast nie im Sitzen gesehen wurde. Man wisse wenig über sein Verhalten, weil er doch meistens in der Luft sei. Auch habe man nur eine Ahnung, wann und wo der Vogel schlafe. Mein Bruder meint, der Mauersegler täte es im Fliegen. Manchmal segelt er so hoch, dass er Luftschichten erreicht, in denen er keine Mücken fangen kann, weil es dort keine gibt. Er hätte also eigentlich keinen Grund, da oben herumzufliegen. Also schläft er und schaltet auf Autopilot. Das muss man erst mal können.
Auch meine Mutter übrigens hat ein ausgeprägtes Verhältnis zu Vögeln. Sie ist auf einem Gutshof in Ostpreußen aufgewachsen und hat schon als kleines Mädchen gesehen, wie ihre Mutter eine Köchin und ein halbes Dutzend Hausmädchen dabei dirigierte, die Erzeugnisse des Gutes in Mahlzeiten zu verwandeln. In der Kinderwelt meiner Mutter kam Geflügel vor allem als Werkstück für Köchinnen vor - lebende Vögel interessieren sie bis heute nicht besonders. Das Ergebnis dieser eher nüchternen Beziehung kann sich übrigens sehen lassen: für ihren Entenbraten würde ich eventuell einen Mord begehen.
Neulich saßen wir bei eben diesem Entenbraten und es entspann sich ein Gespräch über die Vogelgrippe. Ich sprach meinen ornithologisch veranlagten Bruder darauf an, ob die Schwäne an der Alster in Hamburg immer noch in einem Zelt untergebracht seien, um sie vor Ansteckung durch andere Wildvögel zu schützen. Mein Bruder bekam einen müden Zug um den Mund und sagte:
"Es gibt sogar einen städtischen Angestellten, der sich um die Schwäne kümmert." Dann meinte er: "Zehn Kilometer von der Alster entfernt sind die Schwäne zum Abschuss freigegeben." In Hamburg-Wilhelmsburg und über den Vier- und Marschlanden recken Jäger ihre Flinten in die Luft und schießen Schwäne, während deren Verwandte an der Alster gehätschelt werden.
"Ist der Mensch schizophren?" fragte ich.
"Wahrscheinlich", sagte mein Bruder und griff nach der Hand seiner Frau. Meine Schwägerin wies darauf hin, dass die Puten, die vor einigen Wochen in Sachsen gekeult werden mussten, wahrscheinlich aus einem unschönen Leben ins Jenseits befördert worden sind.
"Man knipst den Tieren die Schnäbel stumpf, damit sie sich in ihren engen Verschlägen nicht gegenseitig zerhacken. Auf den Bildern von der Geflügelfarm aus Sachsen sah man, dass die Ställe keine Fenster hatten. Ich möchte nicht wissen, wie es da drin ausgesehen hat."
Niemand in der Runde wollte das wissen.
"Und woher hatten die nun die Grippe?", schaltete sich meine Mutter ein.
"Von den Wildgänsen, haben sie in der Tagesschau gesagt", meinte mein Vater.
"Inzwischen gibt es auch die These, es käme übers Futter, sagte mein Bruder.
"Übers Futter?", meine Mutter glaubte es nicht.
"Es kommt wahrscheinlich immer noch vor, dass asiatisches Tiermehl in das Geflügelfutter gemischt wird."
"Asiatisches Tiermehl in unserem Geflügelfutter?", fragte meine Mutter, "haben wir das nötig?"
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