Seit etwa einem Jahr freue ich mich auf den demografischen Wandel. Es begann an einem zerbeulten Morgen. Ich hatte schlecht geschlafen und am Vorabend ein paar Gläser Rotwein getrunken. An diesem Morgen also saß ich im Zug, fühlte mich alt und zerschlagen, sah auch so aus und blätterte lustlos die Werbebeilagen meiner Tageszeitung durch. Irgendetwas war anders als sonst. Dann fiel der Groschen: in den Prospekten von Peek und Cloppenburg, Karstadt und Galeria Kaufhof gab es jeweils mindestens ein männliches Model mit grauen Schläfen und reizvollen Mimikfalten in der Augengegend. Zwar sahen die Altersgenossen in der Reklame um Längen besser aus als ich an diesem Morgen, trotzdem waren ihre grauen Haare und Krähenfüße mir ein milder Trost und sagten mir: du gehörst noch zur Welt.
Auch für die Frauen gibt es Grund zur Hoffnung. Zwar nimmt der Anteil gesichtsoperierter Zombies (Sabine Christiansen, die Begum, Dagmar Berghoff) zu. Aber das dürften eher sich selbst abmeldende Einzelfälle sein. Die anderen reiferen Frauen sind die bestbezahlten und beliebtesten Stars des deutschen Fernsehens, sie haben gefärbtes Haar, das Klimakterium längst hinter sich und stehen mitten im Leben: Senta Berger, Iris Berben, Christiane Hörbiger. In meiner Kindheit - da sendete man noch in schwarzweiß - durften Frauen dieses Alters nur als Vorzimmerdrachen, fürsorgliche Großmütter oder komische Alte auftreten, heute werden ihnen Krimis auf den Leib geschrieben und sie machen Reklame für Haarpflegemittel und Osteoporose-Präparate.
Jahrzehntelang hat die Werbebranche getan, als gebe es kein lebenswertes Leben über 30 - jetzt haben sie sich besonnen. Dabei dürfte eine nicht unerhebliche Rolle spielen, dass in Deutschland die Hälfte des gesamten Vermögens den über 50 jährigen gehört. Auf das Geld hat man es abgesehen.
Sieht man sich die Alterspyramide dieses Landes an, wird man feststellen, dass wir um vierzig die größte Bevölkerungsgruppe sind - und wohl auch für lange Zeit bleiben werden. Es gibt da eine hübsche Grafik auf der Homepage des Bundesamtes für Statistik: sie hat eine dicke Beule, da wo die heute 35 bis 50 jährigen verzeichnet sind. Man kann das Diagramm animieren und sich ansehen, wie die Bevölkerungsentwicklung weitergeht - 2010, 2020, 2030. Die Deutschen insgesamt werden weniger, die Abbildung wird schlanker und schlanker, nur unsere Beule bleibt dick und rutscht langsam höher. Diese Grafik weist auch aus, dass der geburtenstärkste Jahrgang seit eh und je meiner ist: geboren 1964. Nur zum Vergleich: im Jahr 2004 kamen nicht mal halb so viele Deutsche zur Welt wie 1964. Ich will keine vorschnellen Schlüsse ziehen, nur weil ich ein paar Gleichaltrige in Werbeprospekten entdeckt habe, aber könnte es nicht sein, dass das Schönheitsideal der Gesellschaft mit uns älter wird, dass wir in der Mitte der Gesellschaft bleiben, einfach weil wir so viele sind? Nach uns kommen nur noch wenige, vor uns werden es immer weniger - wir, die geburtenstarken Jahrgänge, bleiben die relevante und tonangebende Gruppe in dieser Gesellschaft. Vielleicht werden die paar jungen Leute später auch noch hier und da einen Trend setzen - aber ausschlaggebend bleiben wir. Was für ein unerhörtes Privileg, wir wären seit Menschengedenken die erste Generation, der solches widerfährt. So macht Altwerden Spaß.
Ganz anders erging es der Generation meiner Eltern. Heute siebzigjährig haben sie es jahrzehntelang ertragen, wie eine irrelevante gesellschaftliche Randgruppe behandelt zu werden. Getränke mit unverständlichen Namen, schnell geschnittene Werbefilme für Haargel, Gebrauchsanweisungen und Produktbezeichnungen auf englisch - mein Vater sagte mir mal, er bekäme allmählich den Eindruck, als sollte seine Generation aus der Wirklichkeit herausgedrängt werden. Dieses Gefühl konnten ihm auch ARD und ZDF nicht nehmen. Obgleich Jahrzehnte lang die einzigen, die vorgaben, auf die Geschmacks- und Sehgewohnheiten älterer Leute eingehen zu wollen. Welch eine Lüge. Denn die volkstümlichen Sendungen der öffentlich-rechtlichen drücken vor allem eines aus: Geringschätzung und Zynismus gegenüber der Zielgruppe. Die Pseudo-Folklore à la Musikantenstadl, die minderwertig arrangierten Stimmungsschlager, die schlecht auswendig gelernten Dialoge, die Billigkulissen - das alles ist eines ganz sicher nicht: authentisch. Wie zum Beweis hat die Volksmusik-Ansagerin Carolin Reiber sich auf jung operieren lassen und sieht jetzt der Achtziger-Jahre-Transsexuellen Romy Haag ähnlicher sieht als sich selbst. Gott gebe, dachte ich immer, dass uns solches erspart bleiben möge. Und es sieht ganz danach aus.
Schon jetzt hat sich das Bild der Alten in der Gesellschaft gewandelt, und wird sich weiter wandeln. Früher trugen die Menschen über sechzig schwarzes Tuch - ich erinnere mich noch an meine Urgroßmutter. Das war eine sesshafte Frau, die niemals verreiste. Sie muss etwas über siebzig gewesen sein, da ließ sie sich drei Trägerröcke nähen - zwei in grau und einen in schwarz, der war für sonntags. Das sollte für den Rest ihres Lebens reichen und die Rechnung ging auf. Sie verließ knapp zwanzig Jahre später unser Haus mit den Füßen voran, bekleidet mit einem grauen Trägerrock. Heute tragen Rentner beige in allen Variationen, hell muss es sein. Sie sind lebenslustig, bevölkern Reisebusse, Museen, Musicaltheater, Straßencafés und Arztpraxen, wandern, gehen schwimmen oder zur Massage und fahren Rad. Und reden in einem Atemzug über Ehebrüche, Fernreisen und künstliche Hüften.
Wer kann absehen, was meine Generation so anstellen wird, wenn sie in dieses Alter kommt? Untersuchungen belegen, dass heute 60-Jährige - biologisch betrachtet - etwa fünf Jahre jünger sind als früher. Vielleicht werden wir nach schwarz und beige auch eine ganz eigene Farbenlehre des Alters entwickeln.
Ich freue mich darauf, denn auch auf dem Arbeitsmarkt naht Genugtuung. Nach Jahrzehnten, in denen man nicht müde wurde, uns begreiflich zu machen, dass wir in dieser Gesellschaft nicht gebraucht werden - weil es so viele von uns gebe - ist es jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis man uns anflehen wird, länger zu arbeiten. Vorruhestand? Von wegen! Ganz anders als unsere Eltern, die man schon kurz nach ihrem fünfzigsten Geburtstag begann, aus dem Berufsleben zu verscheuchen. Man wird uns brauchen, unsere Arbeitskraft, unser Fachwissen, unsere Erfahrung - weil so wenige gut qualifizierte Leute nach uns kommen. Zwar werden wir als Rentner weniger Geld zur Verfügung haben und uns schlimmstenfalls mit schlechteren Zähnen und Hüftgelenken durch die letzten Lebensjahrzehnte lispeln und humpeln. Doch vielleicht kommt es auch ganz anders. Wenn wir in der Mehrheit bleiben - vielleicht wird sich die Gesellschaft gar sich nicht leisten können, uns so schlecht zu behandeln wie heute befürchtet wird? Erste Anzeichen zeigen sich bereits: In Bad Füssing, Landkreis Passau, macht seit einiger Zeit der erste "50 + Supermarkt" gute Geschäfte. Was dort anders ist? Es ist einfach netter: Es gibt eine Ruhezone mit Blutdruckmessgerät, die Gänge sind breiter, die Wagen leichtgängig und mit einer Sitzgelegenheit ausgestattet, an den Regalen hängen Lupen, damit man lesen kann, was in der cholesterinfreien Margarine enthalten ist. Sogar die Parkplätze sind geräumiger. Längst gehen zahlreiche Jüngere dort einkaufen. Man versteht, warum.
Im Jahr 2050 werden die über 60-Jährigen etwa 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Zehn Millionen über 80-Jährige wird es dann geben. Da wird sich noch allerhand ändern müssen: Mit Kleinigkeiten fängt es an. Mehrgeschossige Häuser müssen Fahrstühle erhalten. Die Fußgängerampeln werden längere Grünphasen bekommen. Und hoffentlich wird es endlich Stühle neben den Kontoauszugsdruckern geben. Denn wenn man am 15. des Monats schon feststellen muss, dass man die Rente komplett ausgegeben hat - auch wenn man vergessen hat, wofür - kann einen das schon aus den Gesundheitsschuhen hauen.
Vielleicht bügelt der demografische Wandel sogar die schlimmsten Versäumnisse der Regionalplanung wieder aus und macht einen Teil der Zersiedelung rückgängig. Wenn wir erst einmal älter sind, wird es schwerer sein, in Randlagen zu leben, fern von der nächsten Arztpraxis, dem nächsten Supermarkt, der nächsten Post. Alles lässt sich auch dann nicht im Internet erledigen und bei Ebay trifft man niemanden zum Plauschen. Vielleicht ziehen die Senioren von den Rändern wieder in die Zentren der Klein- und Mittelstädte. Zumindest wäre das ein schöner Traum. Schluss mit Gipskartonattrappen, die vorgeben, Häuser zu sein. Autohäusern und Einkaufszentren auf der grünen Wiese könnte die letzte Stunde schlagen. Vielleicht würde die Welt meinem ästhetischen Empfinden eher entsprechen, als sie es heute tut.
Auch für die Jugend der Zukunft hätte der demografische Trend sein Gutes: Die Jungen würden verwöhnt werden, von Großeltern und Urgroßeltern in biblischem Alter. Hinzu kommen Freunde und entfernte Verwandte, die keine eigenen Kinder haben, sich aber nach der Oma- oder Opa-Rolle sehnen. Und: Diese Jugend wird erben, erben, erben. Denn neben den Eltern finden sich reichlich Tanten und Erbonkel in der Verwandtschaft, die keinen eigenen Nachwuchs hinterlassen. Vielleicht verjubeln die Jungen ja einfach das Geld all dieser Kinderlosen - und werden uns Alten auf dem Arbeitsmarkt nicht unnötig im Weg herumstehen.
Worauf ich mich besonders freue: die Technik wird einfacher werden. Das jedenfalls ist meine Hoffnung. Andernfalls wüsste ich wirklich nicht, wie ich noch lange mithalten soll. Heute schon schaffe ich es nur mit Mühe, einen Fahrkartenautomaten zu bedienen. Und als ich mein neues Handy bekam, verwandte die zwanzigjährige Fachverkäuferin ziemlich viele Wörter, die ich nichtmal verstand. "Blue Tooth" zum Beispiel. Dass es nichts mit Gebissen zu tun hatte, wusste ich schon. Aber was hieß es dann? Und woher soll ich wissen, welcher CD-Rohling der Richtige für mich ist, wenn das Regal mit CDs im Media Markt knapp 30 Meter lang ist und alle Bezeichnungen haben, die ich nicht im Entferntesten einordnen kann. Wie sagte eine Freundin von mir: "Immer, wenn ich mich alt fühlen will, gehe ich zu Saturn." Aber so wird es nicht bleiben können. Die Elektronik- und Computernerds werden es eines Tages nicht mehr verantworten können, uns weiter zu demütigen. Wir werden ja die breiteste Konsumentenschicht stellen. Ich stelle mir vor wie ich - ein gutgelaunter Siebzigjähriger - Schwerhörigkeit vortäusche. "Was?", frage ich. "Bitte ... nochmal". Und dann beginnt die arme Verkäuferin von vorn. Ganz von vorn, denn es stellt sich heraus, dass ich von Beginn an nichts mitbekommen habe, obwohl sie bereits seit fünf Minuten spricht. Es ist die selbe Dame, die mir seinerzeit nicht erklären wollte, was "Blue Tooth" ist. Rache ist süß.
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