Wer überall nur Systeme am Werk und Strukturen in Kraft sieht, dem mag die Personalfrage egal sein. Doch wenn man sich den großen Rest der Legislaturperiode vorzustellen versucht, spricht vieles dafür, sich das Personal anzuschauen, das mit der Umsetzung des Koalitionsvertrags von Union und SPD beauftragt ist.
Denn selbst in einem politischen System mit relativ ausgefeilten Koalitionsverträgen braucht es eine Dosis menschlichen Willens, um Gesetze zu machen, die funktionieren. Einmal ganz abgesehen davon, dass es immer auch Dinge – Finanzkrisen, Atomkatastrophen, erhöhtes Flüchtlingsaufkommen – gibt, die nicht im Vertrag stehen und trotzdem bewältigt werden wollen. Wünschenswert wäre nicht zuletzt, dass der Kampf um die demokratische Kultur nicht ganz der Zivilgesellschaft und dem politischen Fußvolk überlassen bleibt: dass also auch das politische Führungspersonal ab und zu für Ideen einsteht, die über die nächste Wahl hinausweisen.
Von der Kanzlerin dürfte in diesen Punkten bis dahin allerdings nicht mehr viel zu hören sein. Angela Merkel wird die nächsten dreieinhalb Jahre damit verbringen, den innerparteilichen Kampf um ihre Nachfolge unter Kontrolle zu halten. Wie die CDU-Chefin medial dafür gefeiert wurde, dass sie sich ihre Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer selbst ausgesucht hat, beweist vor allem, wie wenig ihr nach der Rüttelstrecke der vergangenen fünf Monate noch zugetraut wird.
Es ist nicht einmal klar, ob es tatsächlich vor allem sie selbst war, die in den Koalitionsverhandlungen relative Großzügigkeit gegenüber der SPD bewies. Sicher ist nur, dass nicht bloß die SPD, sondern auch die Kanzlerin selbst bei Neuwahlen sehr viel zu verlieren gehabt hätte: Der Chor der Merkel-Kritiker in der CDU schwoll an.
Zwei ihrer parteiinternen Kritiker hat sie nun im eigenen Kabinett – Julia Klöckner als Agrarministerin und Jens Spahn. Jens Spahn als Gesundheitsminister ist hier der interessantere Fall, denn als potenzieller Führungsnachwuchs setzt er jetzt schon einen seit 2005 kaum noch gehörten, schneidigen Ton bei der CDU.
Das Gesundheitskapitel im Vertrag fiel enttäuschend aus, weil die Fallhöhe zur SPD-Forderung nach einer Bürgerversicherung so groß war. Dass die Koalition es wagt, statt einer Bürgerversicherung die Einrichtung einer „wissenschaftlichen Kommission“ zur Ärztehonorierung anzubieten, beleidigt die Intelligenz der Wähler.
An einigen Details könnte sich allerdings zeigen, ob Spahn bereit ist, das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherer wenigstens einzuschränken und so die gesetzlichen Kassen zu stärken: etwa wenn, wie angekündigt, Selbstständige durch niedrigere Kassenbeiträge von den Privaten weggelockt werden sollen.
Lobbyismus pur: Spahn
Spahn ist ein Neoliberaler beinahe wie aus einem Bilderbuch der 90er Jahre. Gesundheitspolitik war für ihn jahrelang eine Möglichkeit, politische Informationen über eine Lobbyagentur mit seinem Bundestagsmitarbeiter und seinem Freund an die Medizinindustrie zu verkaufen, wie der Focus unwidersprochen berichtete. Was die Familie Trump/Kushner heute in den USA in großem Stil betreibt, hatte Spahn schon als junger Abgeordneter erprobt.
Auch Spahns jüngste sozialpolitische Einlassungen – „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“ – sprechen nicht dafür, dass es ihm um mehr Gleichheit in der Gesundheitsversorgung geht.
Das Programm dieser Koalition birgt für viele eben doch kein Versprechen darauf, „das Wohlstandsversprechen zu erneuern“, wie es Merkel am Montag ankündigte, und eine „Koalition der kleinen Leute“ (Horst Seehofer) zu sein. Der größte neue Einzelposten im Koalitionsvertrag ist eine Steuersenkung: der Abbau des Solidaritätszuschlags – angesetzt für das Wahljahr 2021. Er wird mit zehn Milliarden Euro beziffert.
Alle Beteuerungen, dass damit die Gering- und Mittelverdiener entlastet würden, führen stets an der Tatsache vorbei, dass selbstverständlich von Steuersenkungen die Besserverdiener mehr profitieren – so auch hier, selbst wenn die zehn Prozent Bestverdiener den Solidaritätszuschlag weiter zahlen sollen. Auch das Baukindergeld illustriert, dass diese schwarz-rote Koalition vor allem die große deutsche Umverteilungsmühle – von der Mittelschicht an die Mittelschicht – am Laufen hält. Es mag dies aktuell auch der Vorstellung geschuldet sein, dass Altbewährtes am besten hülfe, wenn die gängigste Analyse für den wachsenden Erfolg der Rechtsradikalen „zunehmende Ängste der Mittelschicht“ lautet.
Nun bleibt bei dieser Analyse immer noch offen, warum so viele hoch qualifizierte Erhebungen – etwa die des Sozio-Ökonomischen Panels in Berlin – ergeben, dass die Deutschen den wirtschaftlichen Boom der vergangenen Jahre sehr wohl wahrnehmen und dieser sich auch positiv auf ihre Laune auswirkt. Der „Ängste“-Befund darf als umstritten gelten.
Aber unabhängig davon, ob die Mittelschichten nun Angst vor der Armut oder Angst vor den Armen haben, und wie dies mit den anschwellenden rassistischen und anderswie feindlichen Ressentiments zusammenhängt: Ziel müsste es in jedem Fall doch sein, Armut zu verringern . Die Mittel dazu wären da, selbst wenn man weiter auf erkennbare Erbschaft- und Vermögensteuer verzichtet.
Doch verraten weder der Koalitionsvertrag noch das angetretene Regierungspersonal auch nur im Ansatz, wie ernst der Kampf gegen die soziale Spaltung genommen wird. Dabei schlägt diese sich längst auch aufs demokratische System durch.
Als Andrea Nahles – noch als Bundesarbeitsministerin – vor einem Jahr aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ihres Hauses vom Zusammenhang von Armut und niedriger Wahlbeteiligung erfuhr, gab sie zu Protokoll: „Dieser Befund ist echt krass.“ Vergleichbares zur jüngsten Bundestagswahl ist von keinem GroKo-Spitzenmitglied überliefert.
Dabei sieht es aktuell kaum besser aus. „Im sogenannten Milieu der Prekären, einem Milieu der sozialen Unterschicht, verlieren die etablierten Parteien inzwischen rasant an Rückhalt. In diesem Milieu lag die geschätzte Wahlbeteiligung bei nur etwa 58 Prozent und damit fast 20 Prozentpunkte unter der Gesamtwahlbeteiligung. Gleichzeitig kam die AfD im prekären Milieu mit 28 Prozent auf ihr stärkstes Ergebnis.“ So lautet die Bundestagswahl-Auswertung der Bertelsmann Stiftung, die in puncto „Soziale Spaltung der Wahlbeteiligung“ die verdienstvolle Arbeit des Politologen Armin Schäfer von der Universität Osnabrück fortsetzt.
Heimat? Was auch immer
Um einiges ernüchternder als die Bestellung von Olaf Scholz zum Finanzminister ist deshalb, dass Hubertus Heil Andrea Nahles’ Nachfolger im Arbeitsministerium wird. Sollte jemand je nachweisen wollen, dass manche Politiker schon als Apparatschik geboren werden, so wäre die Forschung bei ihm zu beginnen. Es darf als ausgeschlossen gelten, dass Heil jemanden vom Kampf gegen den sozialen Ausschluss überzeugt. Aber er bekommt Geld: Eine Milliarde Euro im Jahr darf das Aktivierungsprogramm für Arbeitslose „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ kosten, es soll bis zu 150.000 Menschen erreichen. Das ist wesentlich mehr als bisher, aber eben doch nur im Zehntelbereich dessen, was angebracht wäre. Gleiches gilt für die Grundrente, die für eine sehr begrenzte Anzahl Senioren das „Hartz IV für Alte“ aufstocken soll.
Der Streit um die „Tafeln“ hat nun immerhin den Ertrag gebracht, dass die mindestens windige, eher aber willkürliche Berechnung des Existenzminimums in Deutschland nicht mehr haltbar ist. Alle, auch die CDU-nahen Sozialverbandsvertreter, sind sich einig, dass der Hartz-IV-Regelsatz erkennbar aufgestockt gehört.
So reicht es eben nicht, dass diese Koalition antritt, die Instrumente der Kinderarmutsvermeidung – Kinderzuschlag, Schulstarterpaket – so aufzustocken und auszugestalten, dass die Gemeinten es endlich auch schaffen, sie zu beantragen. Anders als Hubertus Heil ist es der neuen SPD-Familienministerin Franziska Giffey allerdings durchaus zuzutrauen, Aufmerksamkeit auf diesen Bereich zu lenken – und damit den Druck im Kabinett für ihre Sache zu erhöhen.
Wer noch den Jingle der damaligen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) vom „warmen Mittagsessen“ im Ohr hat, womit sie ihr Bildungspaket anpries, wird diesbezüglich vielleicht zynischer geworden sein. Doch Giffey macht als Berlin-Neuköllner Bezirksbürgermeisterin bisher den Eindruck, als hätte sie die Absicht, sich auch für Menschen einzusetzen, die sie dann doch nicht wählen. So gesehen macht hier die Besetzung mehr Hoffnung als Koalitionsvertrag plus Erfahrung.
Umgekehrt ist es beim Thema Bildung. Es bleibt ein Rätsel, wie Anja Karliczek imstande sein soll, den Bundesländern bessere, gerechtere Schulbildung im Tausch gegen Bundes-Milliarden abzuringen.
Kritik an dieser CDU-Personalie wurde schnell als sexistisch bezeichnet – Frauen hätten das gleiche Recht wie Männer, einen Job ohne jede sachliche Vorbildung anzutreten. Dagegen lässt sich einwenden, dass Frauen das gleiche Recht wie Männer haben sollten, einen Job ausreichend qualifiziert anzutreten – vor allem, wenn es um ein Schlüsselthema der Gerechtigkeit geht: dass Kinder sich durch Bildung vom Status ihrer Eltern lösen können.
Wenn wahr ist, dass Mietkosten zur neuen sozialen Frage aufgerückt sind, muss eine weitere Personalie beunruhigen: Es ist vollkommen unklar, was Heimatinnenbauminister Horst Seehofer (CSU) mit seiner Zuständigkeit für Wohnungsbau machen wird. Ihn habe ja schon allein das Innenministerium „mit Haut und Haaren“ gefordert, kommentierte Vorgänger Thomas de Maizière Seehofers Forderung nach einem Superministerium Innen, Bau und „Heimat“ – was auch immer das dann sein mag. Angesichts von Seehofers aktueller Schwerpunktsetzung – Abschiebungen – wird es jedenfalls wahrscheinlicher, dass der Punkt „mehr Sozialwohnungen“ dem Gutdünken der Bundesländer überlassen bleibt.
Diese Regierung wird sich der sozialen Spaltung der Gesellschaft nicht annehmen. Sie hat den Vorteil – der in ganz Europa den Kollegen die Tränen des Neides in die Augen treibt –, dass sie dank hohen Steueraufkommens Geld verteilen kann. Die dritte große Koalition unter Angela Merkel darf Milliardenprogramme auflegen. Davon, die Gunst der Stunde zu nutzen, um die sozialen Klüfte wirklich zu schließen, ist sie weit entfernt.
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