Ein ganz klein geschriebenes rot-grün ist das neue Rot-Grün. Und das neue Projekt heißt: bloß kein Projekt! Hemmungslos hat die SPD in Nordrhein-Westfalen seit dem 9. Mai die Koalitionsgespräche mit sämtlichen Parteien chaotisiert. Doch bereits im vorläufigen Rückblick sieht dies wie eine schlaue Strategie von SPD-Landeschefin Hannelore Kraft aus, ein gesetztes Ziel ein wenig zu relativieren, um erstens keine falschen Erwartungen und zweitens keine Geister der Vergangenheit zu wecken.
Rot-Grün, das sind keine blütenweißen Kragen mehr, kein perlender Schampus und lauter Triumph von Männern mit aufgerissenen Mündern. Rot-Grün, das ist auch in NRW kein sozialdemokratischer Stromkonzern-Lobbyist Wolfgang Clement mehr, der den Koalitionspartner zu Feldhamsterbeschützern degradiert. Rot-Grün reloaded, das sind zwei bereits etwas angegriffene Frauen an der Spitze einer Minderheitsregierung, die schon in der Gründungsphase Beulen gekriegt hat. Mitte Juli, nach Ministerpräsidentinnenwahl und mit Koalitionsvertrag, wird man sich den ersten Straßenstaub abklopfen. Es wird dann bescheiden aussehen – als würde nicht gerade der Koalitions-Horizont der Republik neu eingefärbt. Man wird bloß sagen: Dann wollen wir mal.
Denn sie wollen ja wirklich. Trotz der Irritationen der jüngsten Zeit präsentieren die SPD- und die Grünen-Spitzenfrauen sich als politisch-siamesische Zwillinge. Auf dem Parteitag am Samstag schob die Grünen-Fraktionschefin Sylvia Löhrmann sogar einen Teil des Applauses Hannelore Kraft zu, die zuerst auf keinen Fall, dann plötzlich unbedingt eine Minderheitsregierung bilden wollte. Für Löhrmann ein „Ausdruck von Stärke“. Wonach klingt das, wenn nicht nach einer identitären Verbindung und Verpflichtung auf gemeinsame Ziele – also ein Projekt?
Letzte Überheblichkeiten
Dass Rot-Grün für jeden Beschluss immer mindestens eine Stimme aus den anderen Fraktionen braucht und hierfür vorerst die Linkspartei ansprechen muss, ist als Experimentaufbau wie geschaffen, um letzte Überheblichkeiten bei SPD und Grünen zu schleifen. Dies wird auch die Bundes-SPD als Botschaft begreifen. Schließlich verschafft Kraft ihren Genossen auch erst das schöne neue Instrument der Bundesrats-Blockade. Im Idealfall werden Kraft und Löhrmann sogar gezwungen, ihr Versprechen von „mehr Transparenz, mehr Demokratie“ auch einzulösen.
Nötig wird dies auf jeden Fall. Jedem dürfte flau werden, der in das Haushaltsloch des Landes blickt. Der Schuldendienst beträgt gut zehn Prozent des laufenden Etats. Doch haben SPD und Grüne offenbar das Vertrauen, auch ohne viel Geld Politik machen zu können. Das wird zwar schon beim wichtigsten Punkt, der Bildungsreform, schwierig. Jeglicher Schritt hin zu einer gerechteren Schule wird etwas kosten. Doch die Bildungsministerin in spe Löhrmann steht nicht nur mit ihrem Wahlprogramm im Wort.
Bildung ist das neue höchste grüne Gut auf der Länderebene. Löhrmann wird den konkurrierenden Landesverbänden zeigen müssen, dass die oft als links und konfus belächelten Nordrhein-Westfalen etwas auf die Reihe kriegen. Zudem war Unzufriedenheit mit der Schulpolitik im Mai wahlentscheidend. „Das Thema Bildung war der Shooting-Star bei den letzten Landtagswahlen“, greift selbst die Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrer Wahlanalyse einen Vorwurf an die abgelöste Regierung unter Jürgen Rüttgers auf.
Der letzte Kohlianer
Mit Rüttgers muss sich nun der letzte Helmut-Kohlianer verabschieden. Des Ex-Ex-Kanzlers Zukunftsminister wird von seinen eigenen Leuten verdrängt. Sollte er noch glauben, nach drei oder vier Monaten erneut Spitzenkandidat bei einer Neuwahl zu werden, so ist er damit inzwischen allein. Neuwahlen waren ein Trumpf der CDU, solange sie dachte, dass die über 300.000 ans Nichtwählerlager verlorenen Stimmen zurückkämen. Angesichts der Bundestrends spricht dafür nichts mehr.
Mit dem Niedergang der CDU verblasst verdientermaßen auch eine andere politische Projektion: Selbst die größten Fans – viele von ihnen Journalisten – müssen inzwischen zugestehen, dass Schwarz-Grün gerade wenig Chancen hat. Ein vermeintlich bürgerlicher Ideenkanon taugt derzeit möglicherweise zum gemeinsamen Opernbesuch, nicht aber zum Regieren. Das hat sich auch beim grünen Realo-Flügel herumgesprochen. Die Produktion von „Die Zeit der Lager ist vorbei“-Essays wurde prompt eingestellt.
Wenn überhaupt, dann fransen die politischen Lager an den Rändern aus – aber langsam. Und ausgerechnet die rot-grünen Protagonistinnen in NRW werden im Klein-Klein beweisen müssen, wie daraus politisches Kapital entsteht. Die Kontakte aus den Sondierungsgesprächen will die „Koalition der Einladung“ nutzen, FDP und CDU für einzelne Gesetze zu gewinnen. Die Hoffnung lautet: Mancher CDU-Abgeordnete kann sich etwa der Rettung von Stadtwerken so wenig verschließen wie die FDP gegen besseren Datenschutz. Ob daraus etwas wird, hängt auch vom weiteren Zersetzungprozess der FDP ab.
Das neue Rot-Grün, es ist eine mangelhafte politische Ware, es ist zu Demut und Kommunikation verdammt, es entsteht auf schwankendem Boden. Das ist neu. Das ist so realitätstauglich, wie die Fünf-Parteiendemokratie gerade werden kann.
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