Wenn es gut läuft

Intensivstation Die Mutter unserer Autorin arbeitet seit 20 Jahren als Anästhesistin in einem kleinen Krankenhaus in Südtirol – ein Bericht
Ausgabe 17/2020
Wenn es gut läuft

Illustration: der Freitag

Meine Mutter arbeitet in einem Provinzkrankenhaus in Südtirol. Seit 20 Jahren arbeitet sie schon auf derselben Station, in der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin. Ihren Namen möchte sie lieber nicht in der Zeitung lesen.

Wann immer ich sie in meinem Leben im Krankenhaus antraf, lief sie mit schnellen, zielstrebigen Schritten aus dem Operationssaal auf mich zu. Ganz in Grün gekleidet, mit heruntergezogenem Mundschutz, die Haare zu einem schnellen Knoten gebunden. Immer kam sie mir zehn Jahre jünger vor als zu Hause im schummrigen Wohnzimmerlicht. Ihre von der Kleidung betonten grünen Augen wanderten kurz zur Uhr. Zeit hatte sie kaum; weder für die Autoschlüssel noch für irgendein wichtiges Dokument. Dann lief sie mit ebenso schnellen Schritten zurück auf die Station, um sich wieder ihrer Arbeit zu widmen. Sie strahlte Sicherheit aus, eine unbeirrbare Energie. Ihre Aufgaben kannte sie genau, erledigte sie schnell und präzise. Ganz selten verlor sie zu Hause ein Wort über ihre Arbeit; vielleicht, wenn sie von einem Patienten Blumen bekommen hatte. „Als Anästhesistin passiert das gar nicht so oft, wenn alles gut läuft, bleibt meine Arbeit unsichtbar“, sagte sie.

Vor ungefähr einem Monat rief ich sie aus London an, wo ich studiere und mich in selbst auferlegter Quarantäne befand. Vor meinem Fenster eine Gruppe Schüler, aus dem nahe gelegenen Park drangen damals lautes Lachen und Musik. Man wusste Bescheid über dieses Virus, das sich von China aus auf dem ganzen Planeten verbreitete. Man hatte von den unmenschlichen Bedingungen in den italienischen Krankenhäusern gehört. Man kannte die Gefahr, und doch konnte man sie nicht fassen in England, einem Land, das sich noch fest im Griff der Normalität befand – oder das, was man zu dieser Zeit noch unter Normalität verstand. Meine Mutter war zu Hause, als ich sie anrief, bald würde sie zu ihrer Nachtschicht starten. Ich erschrak, als ich am anderen Ende der Leitung ihre Stimme hörte: Sie zitterte. Die Gefahr, sich als Ärztin mit dem Coronavirus anzustecken, ist hoch. Die Möglichkeit, sich testen zu lassen, gering. Gut zehn Prozent jener, die in Italien positiv auf das Virus getestet wurden, sterben. Ich solle sofort nach Hause kommen, sagte sie erschöpft. Als sich die Lage dann Anfang März in anderen Regionen Norditaliens schon dramatisch zeigte, war die Zahl der bekannten Ansteckungen in Südtirol noch eher gering: isolierte Einzelfälle in strenger Quarantäne.

Das Warten, die Ungewissheit

Wie in so vielen Ländern außerhalb Italiens sah sich auch das Gesundheitssystem der autonomen italienischen Provinz Bozen für einen eventuellen Ausbruch der Krankheit gewappnet. Ausrüstung und Intensivbetten seien gegeben. Schutzkleidung für Ärzte und Patienten genügend vorhanden. Man wähnte sich in relativer Sicherheit und erklärte die dramatische Situation in anderen Regionen mit Verfehlungen des lokalen Gesundheitssystems und der verantwortlichen Politiker. Eine Einschätzung, die sich schnell als Farce erweisen sollte. Am Sonntagabend wird Mama zusammen mit den anderen Ärzten der Intensivmedizin zur Krisenbesprechung gerufen. Ihre Station, die bis dato für die hochinfektiösen Covid-19-Patienten noch geschlossen war, um sie für andere Patienten freizuhalten, muss sofort geöffnet werden. Die Krisenbesprechung dient zur Vorbereitung. Auf was genau, kann noch niemand ahnen.

Das Warten, die Unsicherheit seien das Schlimmste, sagte meine Mutter. Man beobachtet die dramatische Situation der anderen, im Wissen, in kürzester Zeit selbst vor derselben Entscheidung zu stehen: Wem muss eine Behandlung vorenthalten werden? Zusammen mit den anderen Ärzten der Intensivmedizin wird sie in 12-Stunden-Dienste eingeteilt, immer abwechselnd Tag und Nacht und wieder Tag. Dazwischen haben sie zwei Tage frei – fällt jemand aus, werden die freien Tage reduziert. So muss es gehen, bis zum Ende der Krise. Ein Ende, an das meine Mutter schon gar nicht mehr glaubt. Wie lange würde es noch dauern, bis sich einer der Kollegen infiziert? Nachts ist sie als Ärztin sechs Stunden lang mit den Patienten allein. In ihre Schutzkleidung aus Plastik eingewickelt, versucht sie zusammen mit den Krankenpflegern alles ihr Mögliche, um den Patienten die lebensnotwendige Hilfe zu bieten. Die Zunge klebt an ihrem Gaumen fest. Ihre Nase ist wund und aufgeschürft von der Maske. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit, alles läuft auf Autopilot. Dann wird getauscht und ein anderer Arzt nimmt ihren Platz unter der Schutzkleidung ein. Sie selbst legt sich erschöpft schlafen, aber es gelingt ihr nicht, sie wartet auf das Klingeln des Notfalltelefons.

Ich beobachte, wie meine Mutter fiebrig in ihr Handy starrt, ihr Gesicht ist vom Schlafmangel aufgequollen, jede Faser ihres Körpers zum Bersten gespannt. Im Nebenzimmer weint meine kleine Schwester, meine Fragen hört meine Mutter nicht. Unvermittelt ergreift sie das Wort, kehrt mir den Rücken zu, starrt aus dem Fenster: „Die aus China gelieferten Atemschutzmasken, die an die Intensivstationen verteilt worden sind, sind unbrauchbar, schlechter als jedes Stück Stoff.“

Schamlos ausgenutzt

Angst schwingt in ihrer Stimme. Wut. Eine Ermittlung der Südtiroler Onlinezeitung Salto zitiert ein Prüfgutachten des österreichischen Amtes für Rüstung und Wehrtechnik. Es gebe Hinweise darauf, dass die Information über die Masken von der Südtiroler Sanitätsdirektion unterschlagen wurde und die Ärzte somit wissentlich ohne jeglichen Schutz dem hohen Risiko ausgesetzt waren. In einer halben Stunde würde ihr Dienst beginnen, andere Masken schien es keine mehr zu geben. Einer ihrer Kollegen hatte gebrauchte zum Sterilisieren in die Sonne gehängt, um sie notfalls wiederverwenden zu können. Schließlich, nach einigen Tagen, wurden die mangelhaften Masken doch noch ersetzt. „Solche Vorfälle steigern die Angst, die Unsicherheit. Ich bin oft wütend“, sagt meine Mutter immer wieder. „Natürlich möchte man helfen, doch die Gefahr zu verschweigen, ist falsch. Man porträtiert uns als Helden, klatscht für uns oder spielt Musik; gleichzeitig wird von uns nichts anderes erwartet, als dass wir uns wie Helden verhalten. Die Einsparungen im Gesundheitsbereich sind darauf ausgelegt, dass die Kapazitäten im Normalfall gerade reichen. Und im Notfall, einem Fall wie diesem, wird auf die Opferbereitschaft der Pfleger und Pflegerinnen, Ärzte und Ärztinnen und anderen Mitarbeiter spekuliert. Die Gesellschaft kann sich darauf verlassen, dass wir bereit sind zu helfen, koste es, was es wolle. Diese Bereitschaft wird schamlos ausgenutzt.“

Südtirol, die nördlichste Region Italiens, ist eine der reichsten in Europa. Autonom und schuldenfrei. Seit Wochen herrscht auch hier der Ausnahmezustand. Auf der Intensivstation, wo meine Mutter arbeitet, wurde die Anzahl der Betten verdoppelt, das Ärztezimmer notdürftig für Patienten umgebaut. Einige Patienten wurden zur Versorgung nach Österreich gebracht. Zu Mitte April liegt die Zahl der Verstorbenen in Südtirol bei 228 Personen. Vor allem in den Altersheimen, in denen beinahe die Hälfte der Toten gezählt wird, ist die Situation nur äußert schwer unter Kontrolle zu bekommen.

Nach der Arbeit schrubbt meine Mutter frenetisch ihre Hände. Auf dem Nachhauseweg hatte sie sich die Möglichkeit einer Infektion nochmals vor Augen geführt. Sie hat Angst, sie könnte das Virus mit nach Hause schleppen.

Sieben Krankenhäuser gibt es in Südtirol, das größte steht in Bozen, überall stößt die Versorgung von Schwerkranken schnell an ihre Grenzen. Es gibt in der ganzen Region keine einzige Herz-Lungen-Maschine.

„Während der Arbeit ist es leichter“, sagt meine Mutter. Zum Nachdenken bleibe keine Zeit. Früher kam die Sicherheit aus der langjährigen beruflichen Erfahrung, heute sind es Schutzkleidung und Schutzmaske. Mittlerweile wurden die ersten Patienten extubiert, andere wieder auf die Normalstation verlegt. Die Daten der letzen Tage haben auch in Südtirol gezeigt, dass die Zahl der Neuinfektionen und neu aufgenommenen Patienten sinkt. 632 Patienten gelten als geheilt. Einige der Notbetten werden wieder zusammengeklappt, wenige Plätze auf den Intensivstationen sind wieder frei. Blumen sind noch immer selten; aber immer öfter schickt jemand zum Dank Schokolade.

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