Blick in die Zukunft

Superwahltag Gleichzeitig mit den Europawahlen finden auch Kommunalwahlen statt - danach wird wieder die Deutungsmaschine anlaufen. Aber taugt der erste Superwahltag als Orakel?

Selten ist man so verschaukelt worden wie in diesem Jahr vor der Europawahl. Erst versuchte die SPD – „Finanzhaie“, „Lohn­dumper“ –, dem politischen Gegner in die Schuhe zu schieben, was sie selbst über Jahre in einem ganz anderen Parlament verbockt hatte. Dann zogen die Grünen mit infantilisierten Politphrasen nach: „WUMS“, „SCHNARCH“. Später stieg die Linkspartei – „Raus aus Afghanistan“ – mit Forderungen ein, über die weder in Brüssel noch in Strasbourg entschieden wird. Und zum krönenden Abschluss plakatiert jetzt die CDU flächendeckend eine Politikerin, die in keiner Weise zur Wahl steht: Angela Merkel. Immerhin verfehlte die FDP mit ihren Silvana-Koch-Mehrin-Plakaten das Thema nicht ganz. Auch wenn EU-Parlamentskorrespondenten gern berichten, dass die Liberale nicht sehr engagiert sei und vor allem keine anstrengenden Arbeiten übernehme.

Die angemessene Reaktion auf einen solchen „Wahlkampf“ wäre eine Wahlbeteiligung zwischen fünf und zehn Prozent. Doch steht zu fürchten, dass sich die Deutschen nicht trauen, den Denkzettel auszustellen. Die prognostizierte Stimmabgebequote liegt vor dem Urnengang bei knapp 40 Prozent. Und so wird am Sonntagabend wieder einmal die Deutungsmaschine anlaufen – zumal neben den Europa- auch Kommunalwahlen stattfinden. In immerhin sieben Bundesländern, von West-Riesen wie Baden-Württemberg bis zu Ost-Zwergen wie Mecklenburg-Vorpommern (siehe Kasten).

Nach der Erfahrung der Bundespräsidentenwahl darf man sich auf einiges an „Deutung“ gefasst machen. Die Bestätigung Horst Köhlers schon im ersten Wahlgang wurde, je nach Gusto und Nachrichtenlage, als Anzeichen von „Lagerwahlkampf“ und „Signal für Schwarz-Gelb“ gedeutet – oder eben umgekehrt als Abgesang auf das Lagerdenken und ein Aufleuchten von „Jamaika“ ausgelegt. Man kann gespannt sein auf das „Signal“, das die Experten nach dem ersten Superwahltag im Superwahljahr empfangen haben werden.


Es wird dabei nicht einfach sein, eine Tendenz zu erkennen. Europa- und Kommunalwahlen sind Partizipationsformen mit den wohl größten Unterschieden innerhalb des politischen Systems. Erstere sind besonders „abstrakt“, weil weder die Akteure noch deren Programme oder Unterschiede zwischen diesen – so es sie gibt – einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind. Gewählt wird eine Liste. Es ist eine Veranstaltung für die in Schrumpfung begriffene Spezies der Partei-Wähler.

Kommunalwahlen gehorchen dagegen längst ganz anderen Gesetzen. Jüngst wurde dies zum Beispiel in Schwerin deutlich, wo Mecklenburg-Vorpommerns Landeswahlleiter Klaus Hüttebräuker ein Novum zu verkünden hatte: Im mecklenburgischen Steesow und im vorpommerschen Rothemühl muss die Kommunalwahl ausfallen – es hatte sich niemand wählen lassen wollen. In immerhin 40 Gemeinden, in denen ehrenamtliche Bürgermeister gewählt werden sollten, kann zudem das Rathaus vorerst nicht neu besetzt werden. Es hatte keine Kandidaten gegeben. 15.544 Bewerbungen gibt es im Nordosten für 8290 Mandate in den Gemeindevertretungen und Stadträten – nicht einmal zwei für jeden Platz. Wer antritt, hat eine gute Chance.

Unter solchen Bedingungen sind Parteibücher nachrangig; an politischen Kombinationen ist alles möglich, was in der „großen“ Politik undenkbar ist. Auch informelle Bündnisse aus CDU und Linkspartei sind im Nordosten keine Sensation mehr.

Mecklenburg-Vorpommern mag ein Extrem sein. Dass sich aber Kommunalwahlen immer stärker vom System der Landtags- und Bundestagswahl abkoppeln, ist auch anderswo zu beobachten. So wurden in Baden-Württemberg 2004 die Gemeinderäte mehrheitlich von lokalen Wählervereinen erobert. Sie besetzen 8388 Mandate – die CDU nur 5717, die SPD 2632. Nirgends ist die Erosion der Parteimilieus so fortgeschritten wie auf der „untersten“ Ebene repräsentativer Demokratie. Der „Wahlkampf“ wird über den sprichwörtlichen Gartenzaun geführt, persönliche Bekanntschaft, Funktionen in Vereinen und der Beruf spielen eine wichtige Rolle.

Dass aus solchen Verhältnissen nicht auf den Bundestag geschlossen werden kann – allein schon, weil schwer zu sagen ist, für wen sich die Wähler der Unabhängigen dann entscheiden –, liegt auf der Hand. Etwas höher ist das Prognose-Potenzial von Kreistagswahlen. Im Südwest-Beispiel zeigt sich, dass hier die Parteien mehr Einfluss haben: Die CDU besetzt derzeit mit 930 die bei weitem meisten Sitze – entsprechend der Machtverteilung im Land. Doch schon der zweite Platz fällt aus dem Rahmen: Die Wählervereinigungen schlagen mit 547 Plätzen die SPD (415) um Längen. Im Nordosten wiederum sind die Bürgerlisten in den Kreistagen marginal. Für Mecklenburg-Vorpommern kann der Kommunalwahl-Experte Steffen Schoon von der Uni Rostock daher von einem „Stimmungstest“ für die Parteien bei der Kreistagswahl sprechen. Ein „Indiz für den Ausgang kommender Landtags- oder Bundestagswahlen“, so der Politologe, „sind sie jedoch nicht.“

Wer also gar nicht abwarten kann, müsste sich eher an die Europawahl als Orakel halten. Nach jüngsten Umfragen bliebe die CDU dabei klar unter 40 Prozent, die SPD deutlich über 25, die Grünen bei 12 Prozent, die FDP und die Linkspartei einstellig und die CSU würde es knapp nach Europa schaffen. „Signal“: Große Koalition. Reichlich langweilig – wenn auch unter einem großen Vorbehalt. Er heißt Krise.

Eine Europawahl und sieben Kommunalwahlen

Am Sonntag finden in Deutschland nicht nur die Europawahlen, sondern in sieben Bundesländern auch Kommunalwahlen statt: Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Saarland, Sachsen und Thüringen.

Ursprünglich hatte auch die Düsseldorfer Landesregierung die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen auf den 7. Juni terminiert, war damit aber vor Gericht gescheitert. Geklagt hatte unter anderem die SPD, deren Freude über das Urteil gegen die schwarz-gelbe Landeskonkurrenz sich als Jubel über ein bundespolitisches Eigentor erweisen könnte. Wegen der inzwischen erfolgten Verlegung der Kommunalwahl auf den 30. August rechnet man an Rhein und Ruhr mit einer deutlich geringeren Beteiligung an den Europawahlen. Dies kommt der CSU zugute, die in Bayern ein Ergebnis erreichen muss, dass, bundesweit gerechnet, über der Fünfprozent-Hürde liegt. Je mehr Menschen außerhalb des Freistaates am 7. Juni an die Urnen gehen, desto weniger Gewicht bringen die bayerischen Stimmen auf die Waage.

Gewissheit wird es am Sonntag erst vergleichsweise spät geben: Der Bundeswahlleiter rechnet mit einem vorläufigen amtlichen Endergebnis der Europawahl erst nach Mitternacht. Da erst danach die Auszählung der Kommunalwahlen beginnen wird, könnte sich die Bekanntgabe der abschließenden Zahlen in einzelnen Ländern sogar bis in die kommende Woche hinziehen. In Baden-Württemberg wird sogar erst am Mittwoch mit einem Endergebnis gerechnet wegen des komplizierten Wahlsystems.

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