Mindestlohn statt Tarifbezahlung

Öffentliche Beschaffung Arbeitsmarktregulierung ist wieder im Kommen. Ein langer Hebel sind da die Aufträge der öffentlichen Hand. Wie weit das trägt ist jedoch ungewiss

Geschichte, heißt es zuweilen in Schwerin, wiederholt sich: Sie gibt es einmal als Tragödie – und einmal in Mecklenburg-Vorpommern. Erst kürzlich war die Pointe wieder einmal angebracht, als die Schweriner Landesregierung nach jahrelanger Debatte ein Landes-Vergabegesetz verabschiedet hatte, das niemand wirklich wollte. Die Idee: Wenn öffentliche Aufträge vergeben werden, sollen die an soziale und ökologische Mindestbedingungen geknüpft sein.

Den einen geht jegliche Regel ohnehin zu weit – und den anderen fehlt der entscheidende Zahn im Gesetz: ein „vergabespezifischer Mindestlohn“, wie er in Berlin, Bremen und Rheinland-Pfalz beschlossen wurde. Und wie er, was die SPD sogleich betonte, nach der Landtagswahl im September auch in Mecklenburg-Vorpommern wieder auf die Tagesordnung soll, egal mit welchem Koalitionspartner.


Arbeitsmarktregulierung, so scheint es, ist wieder im Kommen – und die Aufträge der öffentlichen Hand, rund 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sind ein langer Hebel. Vergangene Woche hat die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen ein Vergabegesetz vorgelegt, Grün-Rot in Stuttgart will nachziehen. Bereits jetzt gibt es in jedem zweiten Bundesland eine Regelung, auch wenn sich Reichweite und Inhalte unterscheiden (siehe Kasten).

Neben Lohn-Aspekten werden zunehmend auch auch ökologische und Gleichstellungskriterien berücksichtigt. Das freut Thorsten Schulten von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: Das Ausschreibe- und Beschaffungswesen werde dadurch politisiert.

Ambivalenter Trend

Dennoch sieht Schulten, seit vielen Jahren hauptberuflicher Zeuge des deutschen Tarifsystems, den neuen Trend ambivalent. Um das zu verstehen, muss man zurückgehen – bis ins Jahr 2002, als die Vergabegesetze eine erste Blütezeit erlebten. Die damalige rot-grüne Bundesregierung wollte für öffentliche Aufträge auf Bundesebene vorschreiben, dass die Arbeiter nach Tarif bezahlt werden. Die Initiative scheiterte allerdings am Bundesrat.

Das wurde seinerzeit zwar als herbe Niederlage für Gerhard Schröder ausgelegt, war dem damaligen Kanzler aber am Ende vielleicht ganz recht. Kurz darauf schaltete er ohnehin vom re-regulierenden Ansatz des 1998er SPD-Wahlprogramms auf Agenda-2010-Kurs und setzte nunmehr auf Deregulierung und Niedriglohnsektor.

Der "Rüffert-Schock"

Paradox genug: Während die Sozialdemokratie auf Bundesebene mit den Hartz-Reformen empfindlich Hand an das Tarifsystem legte, versuchten viele SPD-Landespolitiker, die Auswüchse in ihrem Einflussbereich durch Tariftreueregeln in Vergabegesetzen zu kompensieren. Zunächst stand die Bauwirtschaft im Mittelpunkt, später wurden die Gesetze auf ­andere Branchen ausgedehnt und durch entsprechende Klauseln gegen Sub­unternehmerketten immunisiert. Ansonsten könnte ein Unternehmen die Arbeit einfach an eine andere Firma weiterreichen – die dann nicht unbedingt die Sozialstandards erfüllt.

Nach der Abwahl Schröders hätten diese Gesetze einen guten Ausgangspunkt bilden können für eine politische Stärkung des Tarifsystems und eine Wiederannäherung der SPD an die Gewerkschaften. Doch dann kam 2008 der „Rüffert-Schock“ dazwischen: Der Insolvenzverwalter Dirk Rüffert hatte im Auftrag eines Bauunternehmens gegen das niedersächsische Tariftreuegesetz geklagt – und der Europäische Gerichtshof gab ihm Recht. Der Staat dürfe einen Auftragnehmer nicht auf einen Tarifvertrag verpflichten, den das Unternehmen nicht selbst verhandelt hat. Das verstoße gegen die Europäische Dienstleistungsrichtlinie.

Das Herkunftsland entscheidet

Jene Richtlinie erlaubt bei Ausschreibungen zwar ausdrücklich politische Bedingungen wie Mindestlöhne oder auch „allgemeinverbindliche Tarifverträge“, die branchenweit gelten. Nicht aber die typischen bundesdeutschen Tarifverträge, die von Teilen der Branche freiwillig mit den Gewerkschaften ausgehandelt werden. In diesem Fall wurde das Herkunftslandprinzip höher gewichtet, das ist der Kern der EU-Richtlinie.

Demnach erhalten etwa bulgarische Arbeiter in Deutschland keinen deutschen Tariflohn, sondern werden nach den Regeln in Bulgarien bezahlt. Jahrelang hatten Gewerkschaften, Linkspartei und Gruppen wie Attac erfolglos gegen dieses Prinzip protestiert, sie bezeichneten die EU-Vorgabe als „Bolkestein-Hammer“ – benannt nach ihrem Schöpfer, dem damaligen EU-Kommissar Frits Bolkestein.

Das Herkunftslandprinzip wurde – entgegen aller Behauptungen erst der rot-grünen und dann der schwarz-roten Bundesregierung – in den Verhandlungen zwischen 2004 und 2006 offenbar nicht entscheidend abgeschwächt. Schröder, Fischer und Merkel haben zugelassen, dass der deutsche Tarifvertrag im neuen Europa keine legitime lohnpolitische Bezugsgröße mehr ist.

Lang verschmähte Instrumente

Nun kommen mit den Vergabegesetzen neue Impulse zur Re-Regulierung. Thorsten Schulten von der Hans-Böckler-Stiftung erklärt sich das auch mit der Erfahrung einer drastischen Umverteilung vor Ort: „Oft hat man gesehen, dass man das Geld, was bei einem Auftrag eingespart wurde, gleich am nächsten Schalter als Sozialleistung wieder rausgeben musste.“

Heute hat die Politik zwar gelernt, aber der Rüffert-Schock hat deutliche Spuren hinterlassen: Vorher ging es um Tarifbezahlung für alle Lohngruppen, jetzt setzt man eine Ebene tiefer an und hantiert mit Mindestlöhnen und allgemeinverbindlichen Minimaltarifen. Das sind die von deutschen Tarifpolitikern lange verschmähten Instrumente der Armutsbekämpfung aus der anglo-amerikanischen Lohnpolitik, in der Gewerkschaften keine relevante Rolle mehr spielen.

Bis jetzt hat niemand geklagt

Solange die deutschen Arbeitnehmer nicht „Französisch lernen“ und entschlossen für ihre Rechte eintreten, werden sich wohlmeinende Landespolitiker und Gewerkschaften im Englischen versuchen müssen: nicht so leidenschaftlich und dramatisch, aber pragmatisch und problemorientiert.

Wie weit das trägt, ist allerdings ungewiss: Möglicherweise verstoßen auch „vergabespezifische Mindestlöhne“ gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie, schließlich gelten die Mindestlöhne ausschließlich bei öffentlichen Aufträgen. Bisher hat sich jedoch niemand gefunden, der dagegen klagen will.

Sollte eine solche Klage vor dem Europäischen Gerichtshof tatsächlich Erfolg haben, dann bliebe als sinnvolle Antwort nur ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn. In der Kanzlerzeit von Gerhard Schröder wurde der von PDS und Gewerkschaftern als Gegenmittel zum absehbaren Sozialabbau durch die Hartz-Gesetze in die Diskussion gebracht. Heute würde er vieles einfacher machen.

Vergabegesetze mit sozial-ökologischen Kriterien gibt es nicht überall in Deutschland. Nach einer aktuellen Übersicht der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gelten Tariftreuegesetze derzeit in acht der insgesamt 16 Bundesländer: in Berlin, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Thüringen und im Saarland.

In Berlin ist ein Mindestlohn von 7,50 Euro festgelegt, in Bremen und Rheinland-Pfalz liegt er bei 8,50 Euro. In den übrigen Bundesländern fehlen entsprechende Vorgaben.

In Niedersachsen gelten gesetzliche Lohnvorgaben nur für die Bauindustrie. Dort sind Unternehmen, die öffentliche Aufträge erhalten, auch nicht an die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO gebunden.

Weitere vier Bundesländer planen ein Vergabegesetz: In Potsdam und Düsseldorf haben die SPD-geführten Landesregierungen bereits Entwürfe vorgelegt, dort soll ein Mindestlohn in Höhe von 8,00 Euro (Brandenburg) und 8,62 Euro (Nordrhein-Westfalen) eingeführt werden. In Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt ist in den Koalitionsverträgen ein Vergabegesetz vorgesehen.

Ohne Tariftreuegesetz sind derzeit die unionsgeführten Länder Bayern, Hessen, Sachsen und Schleswig-Holstein. Das bayerische Vergabegesetz wurde aufgehoben, in Hessen findet das Landesgesetz wegen des Rüffert-Urteils keine Anwendung. Im sächsischen Gesetz und im Gesetzentwurf der Landesregierung Schleswig-Holstein fehlen laut Hans-Böckler-Stiftung Bestimmungen zur Tariftreue.

FW

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