Sehr viele Frauen tun es: beim Orgasmus abspritzen. Dennoch klingt weibliche Ejakulation wie eine Abweichung von der Norm, eine Krankheit gar. Stephanie Haerdle erschrak selbst darüber, wie wenig sie über das „Squirting“ wusste. Sie forschte los und schrieb auf, was sie fand: ein profundes Wissen über den Austausch gerade der weiblichen Körperflüssigkeiten.
der Freitag: Frau Haerdle, weibliche Ejakulation: Wie kommt frau auf so ein Thema?
Stephanie Haerdle: Durchs Kino. Ich habe 1998 in einem Berliner Frauenlesbenkino How To Female Ejaculate gesehen. Der Film hat mich umgehauen. Ich bin in den 1980ern mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es hier männliche, dort weibliche Körper gibt – und dazu ganz bestimmte Verhaltensweisen beim Sex gehören. Und dann sitzen da diese vier Frauen im Kreis und spritzen die Leinwand voll. Das ganze dualistische Konzept in meinem Kopf ist kollabiert. Gleichzeitig hat es mich wütend gemacht, mit Mitte 20 noch nie davon gehört zu haben, dass Frauen ejakulieren. Also habe ich die Antennen ausgefahren und angefangen zu recherchieren.
Es heißt, 69 Prozent der Frauen ejakulierten beim Orgasmus – eine überraschend hohe Zahl.
Es gibt sehr unterschiedliche Zahlen. Ein österreichisches Forschungsteam hat sich 2007 alle zum Thema erschienenen Studien vorgenommen und miteinander verglichen. Danach reicht die Spannbreite von Frauen, die schon einmal oder sogar regelmäßig ejakuliert haben, von zehn bis 69 Prozent. Es bedarf noch viel Forschung, um zuverlässige Zahlen zu ermitteln. Ich persönlich aber halte die 69 Prozent durchaus für realistisch.
Was heißt denn überhaupt, als Frau zu ejakulieren? Schließlich ist sie, wenn erregt, meist ohnehin feucht bis nass.
Das Spritzen lässt sich von der normalen Vaginallubrikation sehr klar unterscheiden: Ejakulation ist ein schlagartiges starkes Nasswerden vor, während oder nach dem Orgasmus. Jüngere Forschungen regen auch dazu an, zwischen Ejakulation und Squirting zu unterscheiden. Das Ejakulat kommt aus der Prostata, ist eine kleine Menge, milchig, dickflüssig und enthält das Prostata-spezfische Antigen (PSA). Die andere Flüssigkeit ist wässriger und durchsichtig. Frauen spritzen sie in größeren Mengen, sie kommt wahrscheinlich aus der Harnblase, ist aber kein Urin. Auch die vielen, teils sehr alten Texte, die ich mir angeschaut habe, beschreiben eine sehr große Bandbreite an Ejakulat.
Sie sprechen die alten Texte aus China und Indien an, die Sie für Ihr Buch untersucht haben. Im Vorwort zitieren Sie aber einen Liebesbrief an die feministische und politische Aktivistin Emma Goldman, in der es um den „Strahl des Liebessaftes“ geht. Also wusste man auch hier um die weibliche Ejakulation. Wann ging dieses Wissen verloren?
Richtig verschwunden ist die Ejakulation eigentlich erst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Obwohl es immer noch Mediziner gab, die darauf hingewiesen haben, dass Frauen eine Flüssigkeit beim Sex verspritzen, ist es damals aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden. Bedenkt man, dass über 2.000 Jahre alte Texte sehr genau und ausführlich die weibliche Ejakulation beschreiben und der weibliche Samen im Mittelalter allgegenwärtig war, ist das weibliche Spritzen eigentlich erst sehr spät verdrängt worden. Die Geschichte der Ejakulation ist also eine ganz alte, die ihres Vergessens nur eine sehr kurze.
Wie konnte es überhaupt zu diesem Vergessen kommen?
Das hat unterschiedliche Gründe und ist durch verschiedene Paradigmenwechsel geprägt. Zum einen hat sich das Verständnis von Sexualität gewandelt. Stehen in den alten Schriften die Lust im Vordergrund, der Austausch von Körperflüssigkeiten und die gemeinsame Befriedigung, diente Sex irgendwann nur noch der Fortpflanzung. Lange glaubte man, Schwangerschaften entstehen, wenn sich der männliche und der weibliche Samen mischen. Das Wissen darüber, dass es aber nur die Befruchtung der Eizelle braucht, für die die Frau weder Lust noch einen Orgasmus haben muss, hat dazu beigetragen, die weibliche Ejakulation nicht mehr wahrzunehmen. Hinzu kam die Debatte, ob Frauen überhaupt in der Lage seien, sexuelle Lust und Befriedigung zu empfinden – die Ejakulation als sichtbares Zeichen dieser Fähigkeit schien da unpassend. Gleichzeitig hat sich die Vorstellung des menschlichen Köpers geändert: Aus dem Verständnis eines Ein-Geschlecht-Modells, in dem die Frau die weniger entwickelte Form des Mannes ist, wurde das Zwei-Geschlechter-Modell, in dem Männer und Frauen völlig verschiedene Menschen sind. Darin gab es für die Ejakulation der Frau keinen Platz mehr, das war zu nah dran am Mann.
Info
Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation Stephanie Haerdle Edition Nautilus 2020, 288 S., 18 €
Sie schreiben auch über Forscher*innen, die sich für ein Bewusstsein über die weibliche Ejakulation eingesetzt haben, aber nicht gehört werden.
Forschungsergebnisse werden nicht tradiert. Ich habe mir sehr viel medizinische Lehr- und Fachliteratur angesehen, und die Darstellung ist noch immer nicht auf aktuellstem Stand. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist mittlerweile schon etwas besser aufgestellt, was die Klitoris betrifft (siehe Kasten unten), aber das Wissen um die weibliche Ejakulation und Prostata etabliert sich auch dort bislang nicht.
Erstaunlich, weil wir im 21. Jahrhundert weiter sein sollten: Frauen dürfen Spaß am Sex haben und die Medizin hat die Möglichkeiten, entsprechend zu forschen.
Aber da die weibliche Prostata sehr viel seltener erkrankt, ist sie für die Pharmaindustrie nur von geringem Interesse. Außerdem ist die medizinische Forschung noch immer von Männern bestimmt, die wiederum mehr zu männlichen Körpern forschen als zu weiblichen. Anders empfinde ich die öffentliche Wahrnehmung. Hier sind es vor allem junge Frauen, die anfangen, Menstruation, Vulva, Klitoris oder eben die Ejakulation breit zu thematisieren und damit auch gehört werden.
Wie reagieren Frauen darauf, wenn Sie erzählen, dass Sie zur Kulturgeschichte der weiblichen Ejakulation forschen?
Unterschiedlich. Frauen, die schon ejakuliert haben oder jemanden kennen, die das tut, freuen sich über den Austausch und finden es extrem wichtig, mehr darüber zu wissen. Andere reagieren sehr zurückhaltend und fürchten, dass nun ein neuer sexueller Standard gesetzt würde, der unbedingt erfüllt werden muss. Das will ich aber auf keinen Fall propagieren! Nicht alle Frauen ejakulieren und jene, die das tun, tun das nicht immer. Manche können es bewusst steuern, anderen „passiert es“ – die Möglichkeiten sind vielfältig und vor allem individuell. Es gibt auch anatomische Faktoren, die das beeinflussen können.
Diese Befürchtung hängt auch mit der Ablehnung der Ejakulation in der Zweiten Frauenbewegung zusammen. Müsste es nicht eine feministische Selbstverständlichkeit sein, die sexuelle Potenz der Frau zu feiern?
Es gab nicht nur Ablehnung. 1981 ist das Buch Frauenkörper – neu gesehen der feministischen Frauengesundheitsbewegung erschienen, das die weibliche Ejakulation aufgegriffen und grafisch großartig dargestellt hat. So hätte das Thema gut gesetzt werden können, aber es ist in Deutschland ziemlich unter den Tisch gefallen. Ich glaube, dass es daran liegt, dass sie mit der vaginalen Stimulation verknüpft wurde. Die Vagina war der Ort, mit dem sich die Frauen der 70er und 80er Jahre nicht länger beschäftigen wollten. Vaginale Penetration und heterosexueller Geschlechtsverkehr sollten modifiziert oder gleich ganz gelassen werden. Stattdessen wurde die Klitoris als der neue Ort weiblichen sexuellen Selbstbewusstseins gefeiert. Und dann kommen da Frauen, die sagen, wenn sie die obere Vaginalwand stimulieren, spritzen sie ab. Das passte nicht zum sexuellen Selbstverständnis der damaligen Feministinnen.
Heute vielleicht schon eher. Trotzdem frage ich mich, ob Sie leicht einen Verlag gefunden haben.
Das hat ein bisschen gedauert, aber die Edition Nautilus hatte dann Chuzpe. Einige Verlage meinten, das Thema sei zu speziell. Das wäre so, als würde man ein Buch über die Kniescheibe schreiben. Ein absurdes Argument. Als ginge es bloß um ein Körperteil. In meinem Buch geht es ja gerade darum, wie die weibliche Ejakulation mit Vorstellungen von Körper, Lust, von Zeugung und Sexualität verknüpft ist. Es geht um die ganz großen Themen – nicht bloß um Flüssigkeiten.
Zur Person
Stephanie Haerdle, 1974 in Freiburg geboren, studierte Neuere deutsche Literatur, Kulturwissenschaften und Gender Studies in Berlin, wo sie heute lebt und arbeitet. 2007 erschien ihr erstes Buch über Zirkusartistinnen, jetzt ihr zweites über weibliches Spritzen
Die Klitoris
Wahre Größe In der Renaissance war der menschliche Körper in Anbetracht der Mittel recht gut erforscht, Pardon: der männliche. Erst 1559 beschrieb der Anatom Realdo Colombo die Klitoris als Organ weiblicher Lust. Bis dahin galt sie wahlweise als „Leerstelle“ oder als „umgestülpter“, nach innen verlaufender Penis. Einig waren sich die Mediziner jahrhundertelang in einer Sache: Bei Frauen fehlt etwas.
Noch mal mehrere Hundert Jahre – bis 1998 – dauerte es, bis die australische Urologin Helen O’Connell die Klitoris in ihrer ganzen Tiefe beschrieb. Zehnmal größer als ihr sichtbarer Teil, die Klitorisspitze, ist sie. Und doppelt so groß wie die Fachwelt bis dahin annahm. Mit 8.000 Nervenenden ist sie nicht nur deutlich empfindsamer, sondern in ihrem Volumen auch größer als der Penis. Ein Fakt, der vor Jahrhunderten Weltbilder verrückt hätte.
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