Peer Steinbrück ist der Kandidat, und seine Losung für den SPD-Wahlkampf hat er bereits ausgegeben: „Für uns gehören wirtschaftliche Stärke und soziale Gerechtigkeit zusammen.“ Da hört er sich an wie seine CDU-Gegenspielerin Angela Merkel, die versichert: „Aus unserem Menschenbild leiten sich unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ab.“ Die Linke versteht sich ohnehin als „Partei der sozialen Gerechtigkeit“, die Grünen sehen sich ähnlich, und selbst die FDP betreibt eine Webseite namens „Dein Recht auf Gerechtigkeit“.
Es herrscht also allseits wohliges Kuscheln unter der Decke des Nichtssagenden. Und doch schimmert in der deutschen Politik ein Jahr vor der Wahl die Erkenntnis durch, dass diesmal mehr gefragt sein könnte als wohlfeile Floskeln. Nach einer Forsa-Umfrage findet fast jeder Zweite dieses Land tendenziell ungerecht, und acht von zehn Menschen glauben, dass die Kluft zwischen Arm und Reich die deutsche Demokratie gefährdet. Die Politik ist gefordert, denn es ist einiges liegen geblieben auf den Baustellen der Gerechtigkeit.
Arbeit: Ein Mindestlohn ist das Mindeste!
Das Gefühl, dass die Arbeit immer mehr fordert und doch immer weniger bringt, schleicht sich vor bis in die Mittelschicht. Mit Fakten belegt ist dies aber vor allem für Menschen mit niedrigen Einkommen: Nach einer Studie der Uni Duisburg verdienen 4,1 Millionen Arbeitnehmer – rund zwölf Prozent – weniger als sieben Euro pro Stunde, 1,4 Millionen sogar nur fünf Euro oder weniger. Das ergibt bei einer 40-Stunden-Woche rechnerisch 800 Euro brutto. Seit 1995 hat sich die Zahl der Niedriglöhner insgesamt um 2,3 auf acht Millionen erhöht. Der Trend trifft vor allem Frauen. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro brächte 25 Prozent der weiblichen Beschäftigten eine Verbesserung und immerhin 15 Prozent der Männer – und würde somit auch das Lohngefälle zwischen beiden etwas egalisieren. Gescheitert ist die Lohnuntergrenze bislang an der FDP. Die Union hat sich dagegen seit 2011 an den Konsens der anderen Parteien herangerobbt. In der nächsten Legislaturperiode ist die Frage entscheidungsreif.
Vermögen: Umfairteilen!
Ähnlich wie die Duisburger Studie stützt auch der diesjährige Armuts- und Reichtumsbericht das latente Unbehagen über zunehmende Gerechtigkeitskluften: Inzwischen halten die reichsten zehn Prozent der Republik 53 Prozent des gesamten Nettovermögens. 1998 waren es nur 45 Prozent. Die gesamte untere Hälfte der Haushalte besitzt nur gut ein Prozent aller Werte. Im Schnitt halten westdeutsche Haushalte 132.000 Euro Vermögen – einschließlich des eigenen Häuschens –, ostdeutsche jedoch nur 55.000 Euro. Unterm Strich heißt das also, es ist viel Geld da, aber es ist sehr ungleich verteilt. SPD und Grüne haben deshalb ein Konzept für eine Bestandssteuer vorgelegt, die bei Vermögen ab zwei Millionen Euro greifen und rund 11,5 Milliarden Euro jährlich einbringen soll. Das träfe etwa 140.000 Großverdiener. Die Linke hat den Vorschlag begrüßt. Darüber hinaus verlangt sie eine Reichensteuer und einen Spitzensteuersatz von 70 Prozent. Merkel und Schwarz-Gelb wollen nichts von alledem.
Verschuldung: Raus aus der tiefen Grube!
Noch einen weiteren Trend zeigt die Regierung in ihrem Reichtumsbericht: Das Privatvermögen hat sich seit 1992 auf etwa zehn Billionen Euro verdoppelt, während das Nettovermögen des Staats um 800 Milliarden Euro schwand. Der Staat hat folglich in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen Teil seines Geldes abgegeben – und sich damit auch seines Handlungsvermögens beraubt. Der Wettlauf der Parteien um Steuersenkungen seit Ende der neunziger Jahre hat zusammen mit der Verstaatlichung privater Verluste in der Banken- und Finanzkrise dazu beigetragen, dass die Verschuldung der öffentlichen Hand mit gut zwei Billionen Euro einen Rekordstand erreicht hat. Der strangulierte Staat aber kann für die Ärmsten nichts erreichen. Er muss aus dem Schuldental heraus und seine Finanzierung auf Dauer sichern – auch deshalb ist ein neues Steuerkonzept nötig.
Demografie: Soziale Sicherung braucht Haltelinien!
Aber nicht nur der Staat muss sich so weit stabilisieren, dass er nicht über den heute Jungen kollabiert. Die Gerechtigkeitsfrage gilt auch für die gesetzlichen Sicherungssysteme Rente, Krankenversicherung, Pflege. „Der demografische Wandel ist wahrscheinlich neben den Fragen der Globalisierung die größte Veränderung unseres gesellschaftlichen Lebens“, sagte Merkel beim Demografie-Gipfel letzte Woche. Doch ist die Suggestion irreführend, das Thema sei soeben unvermittelt und furchteinflößend vom Himmel gefallen: Die Trends sind seit 20 Jahren bekannt, und ebenso lange wird bereits an den Sozialsystemen gewerkelt. Die Alterssicherung ist nach Darstellung der Deutschen Rentenversicherung inzwischen demografiefest – allerdings um den Preis, dass sie für Menschen unter 45 Jahren einst keine auskömmliche Rente bieten wird. Die SPD will deshalb heutige Milliardenreserven im System halten, um den massiven Verfall künftiger Altersbezüge zu bremsen. Gibt es für Junge keinen Anreiz einzuzahlen, hat sich die gesetzliche Rente erledigt.
Bildung: Es geht nur im Konsens
Zwölf Jahre nach PISA unterfüttern einige Regalmeter Studien das, was viele seit langem ahnten: Das deutsche Bildungswesen ist ungerecht – und zwar in einer sozialen und in einer regionalen Dimension. Kinder von Akademikern haben in Bayern fünfmal so gute Chancen auf ein Abitur wie Kinder aus sozial schwächeren Familien oder solche mit Migrationshintergrund. In Berlin liegt der Faktor immerhin noch bei 2,5. Das System entlässt jährlich 60.000 junge Menschen ohne Abschluss. Das alles hat die Studie „Chancenspiegel“ noch einmal bestätigt, obwohl nun seit einem Jahrzehnt eine Reformwelle nach der nächsten über Schulen, Eltern und Kinder hinwegrollt. An den Universitäten sieht es mit der sozialen Mobilität nicht viel besser aus, auch nachdem Merkel hochtrabend die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen hat. Bildungsministerin Annette Schavan macht nun zumindest zaghafte Vorstöße, das sogenannte Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bildungswesen aufzugeben. Nötig ist jedoch mehr: ein bundesweiter Konsens, eine Art länderübergreifender Schulfrieden ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen.
Energie und Klima: Jetzt aufräumen!
Noch so ein Generationengroßthema: Seit Beginn der Industrialisierung entwickelt sich die Atmosphäre zu einer gigantischen Abfallhalde für Kohlendioxid. Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber hat berechnet, dass nur noch 750 Milliarden Tonnen in die Luft geblasen werden können, wenn die globale Erwärmung in einem beherrschbaren Rahmen von zwei Grad bleiben soll. Das klingt zwar wahnsinnig viel, aber bei einem Jahresausstoß von mehr als 30 Milliarden Tonnen reicht das Budget gerade noch 25 Jahre. Da bleibt den heute Jungen ebenso wenig Spielraum wie bei der Entsorgung des seit Ende der fünfziger Jahre angefallenen Atommülls, um den sich kommende Generationen eine Million Jahre lang kümmern sollen. Das Mindeste im Sinne eines gerechten Ausgleichs ist es, jetzt die Grundlagen für ein neues Energiesystem zu legen. Union und FDP haben aber bereits signalisiert, dass ihnen ihr eigener Umstieg zu schnell geht. Der Ausbau erneuerbarer Energien soll gebremst werden, damit der Staat Zeit zum Planen hat. Zügig und sinnvoll zugleich, das wird die Aufgabe nach der Wahl.
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