Sonntagmorgen. Myriaden von Joggern aller Altersstufen, einzeln, in kleinen Gruppen, in ganzen Kohorten, drehen unverdrossen ihre Runden um den Campus. Schnatternd und giggelnd die einen, verbissen geradeaus schauend die anderen, queren meinen kurzen Fußweg von der Wohnung zum Department. Ich bin auf der "Lawn" untergebracht, dort, wo "distinguished faculty" und auswärtige Gäste wohnen dürfen, die - wie ich - für ein Semester nach Charlottesville, an die University of Virginia (UVA), gekommen sind. Dort, wo in alten Häusern und Villen, den "Pavillons", im kolonialen Stil des frühen 19. Jahrhunderts der Geist wie die Luft Thomas Jeffersons wehen.
Nach einer rund achtjährigen Bauphase, die der Präsident selbst überwacht hat, konnte der Universitätsbetrieb 1825 aufgenommen werden. Auf einem großzügigen Gelände, einem Geviert, ist der älteste Teil der Universität, deren Campus zu einem der schönsten in den USA zählt, untergebracht. Zwischen den verschiedenen Pavillons, in denen sich - wie zu Jeffersons Zeiten - neben Wohnungen für Professoren heute noch in den unteren Räumen Klassenzimmer befinden, gibt es Reihen kleinerer, einstöckiger Bauten, "the ranges", in denen ausgesuchte Graduate Studenten in kleinsten Zimmerchen (ohne Wasser, ohne Heizung, dafür aber eben in Jeffersons Nähe!) wohnen. Und sie reißen sich geradezu darum.
Heute zählt diese staatliche Universität in Charlottesville, rund 120 Meilen südlich von Washington, DC, zu den amerikanischen Universitäten mittlerer Größe. Rund 18.500 Studenten beherbergt sie und etwa 11.000 Angestellte, wovon 2.000 Professoren und "faculty members" sind. Immer wieder taucht die Universität in den verschiedenen Rankings auf, belegt dabei zumeist vordere Plätze und weist durchaus Topniveau auf, was zum Beispiel Jura, Wirtschaftswissenschaften oder die Medizin angeht. Nicht zu vergessen, dass der weltbekannte Philosoph Richard (Dick) Rorty hier über viele Jahre Veranstaltungen in der Englischabteilung gehalten hat. Beeindruckend ist auch der Bibliotheksverbund, in dem die ältesten und größten Bestände an Büchern und Manuskripten in den ganzen USA (neben der Kongressbibliothek in Washington und der Widener Bibliothek in Harvard) ihren Platz gefunden haben: 4,67 Millionen Bücher, 14 Millionen Manuskripte.
Auf meinem Fußweg zum German Department, das kurzfristig - oder doch länger, wie die Kollegen angesichts des Phlegmas mutmaßen - in zwei Container umziehen musste, weil das alte Gebäude dringend renoviert werden muss, passiere ich Teile der Bibliothek, den sich daran anschließenden Mensa-Bereich und verschiedene alte Gebäude. Merkwürdig, denke ich: Nichts hat sich gegenüber den späten 80er Jahren, in denen ich schon einmal für ein Jahr in Charlottesville unterrichtet habe, geändert. Alle paar Jahre werden die Holzfassaden neu geweißt, werden die "brick houses" zuweilen behutsam restauriert - aber die Zeit scheint stillzustehen! Obwohl, wie man mir sagt, wie verrückt gebaut wird. Neue Parkplätze und Parkhäuser, neue "Dorms" für die Studenten. Jedoch - in aller Dezenz. Beruhigend? Auf gewisse Weise schon, wenn man den Tunnelblick desjenigen Akademikers einnimmt, der in aller Ruhe seinen wissenschaftlichen Projekten nachgehen möchte.
Und doch - mir fehlt hier etwas. Das Bunte, Grelle, Schrille, Kontroverse, die Widersprüche, wie sie nicht nur an unseren Universitäten, sondern etwa auch in Südamerika allerorten anzutreffen sind. Überall nur geputzte Oberfläche, der schöne Schein einer akademisch befriedeten und zufriedenen Welt. Das Anbringen von Flugblättern jedweder Art - und seien es Hinweise auf Sportveranstaltungen -, so ein Student, sei wegen Brandgefahr verboten. Statt dessen malen junge Studentinnen mit Kreide, vorzugsweise rosa, Hinweise auf Parties auf die Fußwege. Na dann. Wo steckt der politische Diskurs, wo eine politische (Streit-)Kultur überhaupt? Damals wie heute. Damals ging es, erinnere ich mich noch gut, um die Wiederwahl Ronald Reagans - und Reagan hatte seinen glänzenden Auftritt vor UVA-Studenten. Claqueure allerorten, aber kein Protest. In diesem Jahr, da George, der Unsägliche, antritt, haben zwei, drei Studenten anlässlich des Parteitags der Republikaner in New York einen kleinen Stand aufgebaut, um kräftig die Bus(c)h-Trommel zu schlagen. Keine laute Stimme, die dagegen aufbegehrte. Andererseits aber auch keine Fürsprecher, was nicht weniger beunruhigend ist. Die Studentenströme bewegen sich vielmehr achtlos daran vorbei - es interessiert schlicht kein Schwein!
Am Abend vorher die Nachrichten mit den kurzen Meldungen, dass wieder zwei junge amerikanische Soldaten im Irak "by accident" umgekommen seien - ein Weißer und ein Schwarzer, beide aus Virginia, 23 und 25 Jahre alt.
Natürlich müsse er weg - keine Frage, so die einstimmige Meinung amerikanischer Freunde und Kollegen. Innen- wie außenpolitisch sei es eine einzige Katastrophe, und eine zweite Amtszeit würde das ohnehin dünne soziale Netz und Gleichgewicht völlig aufheben, vom Desaster der Militäreinsätze und den dadurch verursachten Kosten in Milliardenhöhe gänzlich zu schweigen. Der Gegenkandidat Kerry - nun ja, überzeugend sei er nicht gerade, und das nötige Charisma fehle ihm sowieso. Doch er sei halt der Gegendkandidat. Punktum. Die Chancen seien da. Ob es gelinge - man werde sehen. Und wartet ab. Eine wirkliche Aufregung - sieht man von den Deutschen und Deutschstämmigen am Department ab - existiert auch hier nicht. Die letzte Woche vor den Wahlen - und wem fielen da nicht wieder die inzwischen auch in der BRD angekommenen Fernsehduelle der Kontrahenten ein - sei die alles entscheidende.
So sind sie, die Amerikaner. Gemeinplätze und Stereotype allenthalben, ertappe ich mich: ihre Oberflächlichkeit, aber auch Höflichkeit und Hilfsbereitschaft, ihr Harmoniebedürfnis und daher die mangelnde Konfliktfähigkeit. Hierin stecken weit mehr als nur einige Körnchen Wahrheit. Andererseits, denke ich schön dialektisch, was hilft uns unsere vermeintliche Streitkultur derzeit. Vom höchsten intellektuellen Niveau so genannter Experten über den Populismus der Politiker bis in die tiefsten Stammtischrundenniederungen wird allerorten trefflich gestritten, derweil der Sozialstaat implodiert und soziale Gefährdungslagen stationär zu werden beginnen. Die Amerikaner sind verwundert und sehen uns kopfschüttelnd an. Ihr gesunder Pragmatismus und ihre Naivität bewahren sie davor, uns wirklich zu verstehen. Doch verstehen wir uns und sie?
Am Sonntag ist es ruhig in der Abteilung, obwohl der eine oder andere Kollege und auch Graduate Student, der sich auf seine Kurse vorbereiten muss, vorbeischaut. Ich plane die nächste Woche, meine verschiedenen Veranstaltungen, einige offizielle Meetings, in denen die Gastvorträge des neuen Semesters festgelegt werden müssen, ein Empfang für die neuen Faculty-Mitglieder und Austauschprofessoren beim Präsidenten der Universität, am Ende der Woche dann noch eine kleine Begrüßungsfeier des German Department. Dazwischen viel Zeit, in der ich meine mitgebrachten Projekte, wozu mir zu Hause Muße und Zeit fehlt, hoffentlich werde realisieren können.
Sonntagabend in Charlottesville, VA. Ich sitze auf der kleinen Dachterrasse vor meiner Wohnung. Früh geht die Sonne unter. Das Geschrei der Zikaden. Redbirds (Dompfaffen) und ab und an die letzten Kolibris, die sich schon auf den Weg nach Südamerika machen, um den Winter dort zu verbringen, überall Eichhörnchen, squirrels, diese heimlichen Herrscher nicht nur der Garten- und Parkanlagen, sondern des gesamten Campus. Sie flitzen, schreien und jagen sich gegenseitig ihre Beute ab, wie eh und je. Ein strahlend roter Sonnenuntergang - die Wettervorhersage für die kommende Woche klingt verheißungsvoll. Über mir eine Boeing, die zur Landung auf dem großzügig ausgebauten Flughafen Charlottesvilles ansetzt - aus Atlanta, GA oder Miami, worin, wer weiß, vor den Hurricanes gen Norden flüchtende Menschen hocken?
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