Zwei Schüsse, flach und scharf, sehr schnell hintereinander schmetternde Detonationen", heißt es im ersten Satz von Uwe Tellkamps neuem Roman, der auf Seite zwei - ohne dass er dabei schon ans Ende gekommen wäre - zur Sache und zum Delikt kommt: "es war so leicht gewesen zu schießen, so unwirklich, aber Mauritz stand nicht wieder auf, es war kein Traum, ich hatte einen Menschen erschossen" - Der erste Punkt freilich - und damit wären wir beim Manierismus dieses Textes - folgt erst auf der dritten Seite, ganz weit unten. Jetzt erst darf der Leser ein wenig erleichtert aufatmen, denn er braucht ab und an einen Durchatmer bei einem rasanten Erzählfurioso, das zugleich wieder klassisch-realistisch daherkommt: am Ende sind wir nämlich wieder beim Ausgangspunkt angekommen. Wir haben nun erfahren, was jenen Wiggo Ritter, den durchgängigen Erzähler des Romans, veranlasst hat, seinen Freund Mauritz zu erschießen.
Rückblende an den Anfang. Das Szenario: ein nicht näher ausgeführtes Gerichtsverfahren, in dessen Verlauf, der Romanhandlung, ein Mord?, eine Tötung?, ein Verbrechen? geklärt werden soll. Als Oberstimme dabei die des Erzählers, unterbrochen von Statements von Freunden, Bekannten und Verwandten, die auf Erläuterungen und vor allem Erklärungen der Tat bedacht sind. Wie es dazu gekommen ist, was nahezu unvermeidlich ausgesehen hat! Wiggo ist der unambitionierte Sohn eines überaus erfolgreichen Investment-Bankers, der nicht nur ein Schweinegeld verdient, sondern ebenso oberrübenschweinmäßige Vorstellungen davon hat, wie ein junger Mensch namens Ritter jun. in dieser hyperkapitalistischen Gesellschaft zu funktionieren und was er darin zu leisten hat. Nicht zuletzt daher "legt" der Vater dem Sohn auch seine Kollegin und Assistentin zunächst ans Herz und gleich danach ins Bett: "willst du kein normales Leben führen, hatten ihre Lippen zu mir gesagt, im gedimmten Lichtdesignerlicht eines Hundertsechzig-Quadratmeter-Lofts, dessen bis zum Parkett reichende Atelierfenster einen Blick auf den Spreebogen und die Baustelle des Bundeskanzleramtes boten."
Nein, diese schöne, neue, glitzernde Berliner New Economy-Welt (vor und nach dem großen Crash) ist nicht seine Welt. Er kann sie nur verachten. Seine Liebe gilt der Philosophie, die er zwar studiert, die ihm jedoch die akademische Anerkennung und das Weiterkommen nicht gewährt hat, so dass er sich zunächst mit Gelegenheitsjobs skurrilster Art, schließlich mit einer philosophischen Praxis durchschlägt. Deren Klientel kann man sich lebhaft vorstellen. Und eine komplementäre Aggressivität auf seiten Wiggos dazu, ja ein beständig wachsender Selbsthass auf die eigene Klasse und Herkunft. Bis Wiggo dann Mauritz und seine Schwester Manuela kennenlernt, den eiskalten Engel - "kalt wie ein Eiszapfen", wie es einmal über ihn heißt: "Sie goß mir Honig aus einem Glas in den Nabel, lachte."
Das ungleiche Geschwisterpaar verdreht ihm den Kopf und die Sinne. Vor allem jedoch Mauritz, der - solange er sprach, hatte er recht, wie man in Anlehnung an eine Formulierung Thomas Manns über diese charismatische "Führer"-Persönlichkeit sagen mag - je länger, desto deutlicher den Terror gegen den Staat, die Gesellschaft und eine verhasste bürgerliche Kultur predigt: "Immer gab es einen, der den anderen den Weg gewiesen hat. Alexander, Napoleon, Lenin, Stalin. Und immer gab es bei diesen Umwälzungen Opfer."
Den Weg hinaus aus einer rundum verkorksten Zeit, die mit Argumenten aus dem Arsenal eines arg missverstandenen Ernst Jünger (Die totale Mobilmachung), also von der rechten Überholspur des Faschismus gespeist wird, weist einzig der Terror. "Terror, sagte Mauritz kühl und schnitt dem Industriellen das Wort ab. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, wirklich und nachhaltig etwas zu verändern, ist der organisierte Terror." Und Wiggo, der zaudernde Philosoph und hadernde Apologet des altbekannten Credos, wonach es darauf ankomme, die Welt zu verändern, erliegt den Verführungen und Einflüsterungen Mauritzens. Denn der hat, wonach der fragende und in seinem offenkundigen Hass auf die in der Gestalt des Vaters zusammen gefasste bourgeoise Welt blind gewordene Wiggo sucht, dezisionistische Antworten: "Mut zu einer Antwort, und was wir brauchen, heute mehr denn je, ist genau dies: eine Antwort."
Wiggo schließt sich der Terrorgruppe "Cassiopeia" an, die Anschläge und Attentate plant - angeleitet, geführt, verführt durch Mauritz, dessen Gewalttätigkeit gegen Ende des Buches in einer ungeheuer dicht erzählten Szene über die Abstrafung einiger Skinheads in der U-Bahn aufbricht. Darin wird im übrigen auch - denn Mauritz verteidigt dabei ein arabisch aussehendes Pärchen! - ein Licht auf die (keineswegs xenophobe) Ideologie geworfen. Unmittelbar vor der finalen politischen Eskalation gelangt dann Wiggo dann doch noch der Absprung - freilich selbst nur durch ein Verbrechen: die Erschießung von Mauritz, dem es einmal - nur ein einziges Mal - gedämmert hat: "Nichts kann man ändern, Schwesterlein. Es ist sinnlos, etwas ändern zu wollen. Mein Irrtum war es, dass man nicht schwatzen, sondern handeln müße ... Aber man kann nicht handeln. Man muß schwatzen. Wer handeln will in dieser Gesellschaft, wird über kurz oder lang zugrunde gehen."
Der furiose Roman des 1968 in Dresden geborenen Uwe Tellkamp, der zwar auch die verquasten Ideologien (von rechts außen) - und wo wird so etwas schon in der aktuellen deutschen Literatur angepackt?! - wortreich entfaltet, ist vor allem aber eins: intelligent und raffiniert erzählt. Das heißt: es wird eben nicht papieren bloß behauptet, sondern in einem dichten Erzählgeflecht mehrstimmig ein ganzes Problemfeld und -bündel inszeniert: Einsamkeit, intellektuelle Ohnmacht, sexuelles Begehren, "domestic problems", Autoritätskonflikte und eine gewaltige Portion (groß-)bürgerlichen Selbsthasses eben, der die Protagonisten nach dem suchen lässt, was bereits vor rund 90 Jahren der damals noch orientierungslose Sohn aus stinkreichem Budapester Elternhaus (übrigens kurz vor seinem endgültigen Eintritt in die ungarische KP), Georg Lukács, als "schnelle Heldentat" des Revolutionärs gerühmt hat.
Uwe Tellkamp: Der Eisvogel. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2005, 320 S., 19,90 EUR
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