In einem wenig bekannten Beitrag mit dem Titel Koketterie, geschrieben für die Zeitschrift Jugend, und unter dem Kolumnentitel Momentbilder sub specie aeternitatis ist der Soziologe Georg Simmel 1901 auf zentrale moderne Lebensprobleme und zugleich wesentliche Aspekte der eigenen Philosophie und Soziologie zu sprechen gekommen. Am Ende dieses Artikels antwortet die Kokette, deren erotisches Spiel der Philosoph zuvor so eindrucksvoll beschrieben hat, sibyllinisch: "Wenn dieses Spiel zwischen Gewähren und Versagen Koketterie ist - verhält sich denn Gott und die Welt zu uns anders? Locken uns die Dinge nicht weiter und weiter, um uns schließlich ihr Letztes doch nicht zu gewähren? Gönnen sie uns nicht ihren Duft und Schleier, aber gerade nur genug, daß wir nicht von ihnen lassen können? Sieht uns das Dasein nicht auch so halb abgewandt an, mit einem Versprechen, das es nicht einlöst und gegen das wir doch wie blind und verzaubert unser Ganzes einsetzen?"
Wie in einer Nussschale finden sich hier nebeneinander Simmels Ansichten über die Moderne und das Wesen einer spezifisch modernen Kultur, über den Substanzverlust von Ich und Welt, den Spielcharakter in den Umgangsformen und schließlich die Bedeutung des ästhetischen Scheins - man könnte auch sagen: der Oberflächenerscheinungen - versammelt. Georg Simmels Oeuvre liegt inzwischen in einer Gesamtausgabe samt Briefen und Dokumenten in 23 Bänden, vorzüglich ediert und im Blick auf die soeben erschienenen Briefe auch maßvoll kommentiert, abgeschlossen vor. Er ist gewiss einer der beeindruckendsten Philosophen, Sozialpsychologen, Soziologen und wohl auch Ästhetiker jener frühen Moderne, die sich um die Wende zum 20. Jahrhundert herausgebildet hat und als deren Diagnostiker er sich nachhaltig empfohlen hat.
Dabei sind die verschiedenen intellektuellen Entwicklungsstadien Simmels noch einmal präzise anhand der Lektüre des vorhandenen Briefkorpus ablesbar - mögen insgesamt, wie der Herausgeber Klaus Christian Köhnke in seinem kurzen editorischen Bericht angemerkt hat, auch die Verluste überaus schmerzhaft sein: dass nämlich die Freundschaftsbeziehungen nur rudimentär dokumentiert sind, dass vieles verloren gegangen oder nur spärlich überliefert ist. Das trifft ebenso auf ältere, geschätzte Kollegen wie Rudolf Eucken oder Wilhelm Windelband, auf französische und amerikanische Gelehrte wie Bergson, Durkheim oder Stanley Hall, wie auch auf jüngere Kollegen beziehungsweise Schüler wie Ernst Bloch und Georg Lukács zu.
Begonnen hat Georg Simmels intellektuelle Entwicklung mit einer Auseinandersetzung über Kant sowie mit grundsätzlichen methodologischen Erwägungen bezüglich der Ethik, dann auch hinsichtlich von Fragen der Geschichtsphilosophie und Problemen einer allgemeinen Verstehenstheorie. Die Nähe zum Neukantianismus, aber auch zum Diltheyschen Konzept, zum Pragmatismus und mit zunehmender Zeit zu Schopenhauer und Nietzsche ist überall spürbar. Früh reift in Simmel die Erkenntnis, die dann zum Eckpfeiler seines Denkens bis in die letzten lebensphilosophischen Jahre wird, dass das Subjekt und die Objektivität mindestens in ihrer idealistischen Fassung unrettbar verloren sind: Aussagen über das Subjekt und die Gesellschaft sind allenfalls in Annäherungen möglich. Ebenso wenig, wie es noch einen festen Kern gibt, um den sich eine Moralphilosophie entspinnen kann - das war jedenfalls Simmels kurzes Resultat seiner langwierigen Untersuchung über die Einleitung in die Moralwissenschaft (2 Bde., 1892/93) -, ebenso wenig existieren auch das Individuum und die Gesellschaft als fixe Größen oder gar Entitäten.
Das Individuum, schreibt Simmel in Über sociale Differenzierung, seiner ersten Buchveröffentlichung nach der Dissertation, bereits 1890, sei eine "Vielheit", Kreuzungs- und Durchgangspunkt verschiedenster Einflüsse. Ja, mehr noch, was man für die Einheit des Menschen halte, seien "vielmehr die Summe und das Produkt der allermannichfaltigsten Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion nach nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann, daß sie zu einer Einheit zsuammengehen." In bezug auf die Gesellschaft, die das Ensemble von sozialen Differenzierungs- und Wechselwirkungsprozessen ist, schreibt Simmel, dass der Begriff Gesellschaft "nur der Name für die Summe dieser Wechselwirkungen ist, der nur in dem Maße der Festgestelltheit dieser anwendbar ist. Es ist deshalb kein einheitlich feststehender, sondern ein gradueller Begriff, von dem auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach größerer Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen Personen bestehenden Wechselwirkungen."
Von hier ist dann der Weg frei für Simmels sozialpsychologische und soziologische Arbeiten, die in den großen Essaysammlungen Die Philosophie des Geldes (1900) und Soziologie (1908) gipfeln, worin eine phänomenologische Bestandsaufnahme der Moderne nicht zuletzt entlang der Begriffstrias Geld, Ware und Verkehr angeboten wird. Wiederum spielt dabei das Oberflächendesign für Simmel eine herausragende Rolle, schenkt er Trouvaillen wie der Mode und der Koketterie, der Blasiertheit und Neurasthenie, dem Abenteuer und dem Spiel seine besondere Aufmerksamkeit. Im Zuge der Ausarbeitung seiner soziologischen Theorie stößt er dann auf die Begriffe der subjektiven und der objektiven Kultur, die sozusagen zwei Welten anzeigen: Zum einen soll sich darin der Anspruch des Einzelnen ausdrücken - für wie entfremdet, verdinglicht oder entstellt man ihn auch immer ansehen mag -, die eigenen Bedürfnisse und Begehrlichkeiten aller Art anzumelden.
Zum anderen begreift Simmel darunter die nivellierenden, dem Diktat der entwickelten Geldwirtschaft unterworfenen Tendenzen der objektiven oder auch offiziellen Kultur. Dazwischen klafft eine gewaltige Lücke, ein Hiatus, den zu bearbeiten Simmel sich vor allem in seinen letzten Arbeiten, den philosophischen Aufsätzen und Essays im Umkreis der - von Bergson stark beeinflussten - Lebensphilosophie vorgenommen hat. Dabei greift er dann auch wieder auf die Kunst und auf Momente der traditionellen Ästhetik zurück. Unabhängig jedoch von der Frage, ob das von Simmel aus der Kunst abgeleitete Therapieangebot für die moderne Gesellschaft eine echte Alternative darstellt oder nicht, muss man auf jeden Fall die lebensphilosophischen Problemkreise, die die Schriften des letzten Lebensjahrzehnts aufwerfen, als Fortsetzungen und Zuspitzungen früherer Überlegungen aus dem Umkreis der Philosophie des Geldes als seinem chef d´oeuvre ansehen. Anders gesagt: die Lebensphilosophie pointiert Ansichten und schlägt eine bestimmte Lesart der früheren Arbeiten vor, die nicht nur Simmel gezogen hat, sondern die - durch die Brille seiner kritischen Schüler von Bloch über Lukács und Kracauer bis zu Benjamin und Adorno betrachtet - bis heute maßgeblich auch die Rezeption bestimmen.
Überaus interessant zu beobachten bei der Lektüre des überlieferten Briefkorpus ist das deutliche Bewusstsein Simmels über seine intellektuelle Entwicklung. Daneben enthält das Konvolut zahlreiche Briefe und Karten an Verleger und Herausgeber, Notizen über den freundschaftlichen Austausch mit solch gegensätzlichen Künstlern wie Paul Ernst, dem Naturalisten und nachmaligen Klassizisten, einerseits, und dem Ästhetizisten Stefan George andererseits schließlich noch vertrauliche Anfragen und Mitteilungen hinsichtlich von die längste Zeit seines akademischen Lebens scheiternden Berufungen. So spricht er immer wieder von langfristigen Planungen und Projekten, die auch durch äußere Widrigkeiten und ständige Zurücksetzungen, nicht einmal durch eigene Frustrationen ("als ob ein Fluch, der über mir läge, alle Bemühungen [im Blick auf Berufungen, W.J.] mit Unfruchtbarkeit schlüge") aufgehalten werden können. Früh schon, in einem Brief an den französischen Philosophen Célestin Bouglé vom 22. 6. 1895, wird das Projekt einer Philosophie des Geldes, damals noch unter dem Titel einer "Psychologie", erwähnt.
Dann, längst bevor 1908 die große Soziologie erscheint, bemerkt Simmel, wiederum gegenüber Bouglé unter dem Datum vom 13. 12. 1899, dass er, wenn er erst einmal "eine umfassende Soziologie" publiziert habe, "wahrscheinlich nie mehr auf sie zurückkommen" werde. Ja, kurz nachdem seine Philosophie des Geldes herausgekommen ist - immerhin das Werk, von dem er an Heinrich Rickert am 27. 2. 1904 feststellt, dass es wirklich sein Buch sei, wohingegen ihm die anderen "ganz farblos u. als koennten sie von jedem beliebigen geschrieben sein" vorkommen - wendet er sich, wie er Rickert am 28. 5. 1901 schreibt, der Kunstphilosophie zu, jenem Gebiet, dem er bis zum Lebensende treu geblieben ist. Hinzu kommt noch die Einsicht, die Simmel en passant dem Grafen Keyerling im Brief vom 30. 3. 1911 übermittelt, dass "jede große Geistesepoche ... einen Zentralbegriff gehabt (habe), dessen Stellung wie durch Koordinaten dadurch festgelegt sei, daß er die höchste Wirklichkeit u. zugleich den höchsten Wert bezeichnete: ... - u. jetzt scheine das Leben in diese Stelle einzurücken."
Georg Simmels Briefwechsel ist, wen sollte das wundern, in erster Linie ein Gelehrtenbriefwechsel und Simmel zudem - was in der Tat bei dem vielfach gepriesenen Stilisten schon ein wenig auffällig ist - nicht unbedingt ein Epistolograph. Dennoch wird, wer sich für die Person wie die intellektuelle Biografie Simmels interessiert, gern zu diesem informativen Briefband greifen. Denn der Leser erfährt gleichsam unter der Hand noch, dass sich an diversen akademischen "Spielen" (wie etwa bei Berufungsverfahren) (nicht erst) seit Simmels Zeiten bis heute rein gar nichts geändert hat. Jeder an einer hiesigen Universität Tätige kennt (mindestens) einen solchen Paul Menzer, über den es in einem Brief Simmels an den Vertrauten Georg Jellinek vom 20. 7. 1908 heißt, dass dieser "jetzt Ordinarius in Halle geworden" sei. "Nicht einmal ein schlechtes Buch hat der Mann geschrieben, sondern absolut Nichts, er ist offenbar schlechthin impotent." (Simmel hat bekanntlich bis 1914 warten müssen, um an der Peripherie des deutschen Reiches, in Straßburg, dann doch noch einen Ruf zu erhalten!)
Georg Simmel: Gesamtausgabe. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Band 22. Briefe 1880-1911. Bearbeitet und herausgegeben von Klaus Christian Köhnke. Frankfurt, Suhrkamp 2005, 1094 S., 72 EUR
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