Einer aus dem Auditorium seiner Frankfurter Poetikvorlesungen, der Literaturkritiker Volker Breidecker, urteilte nachher, dass Wilhelm Genazinos Veranstaltungen im Wintersemester 2005/06 geradezu "genial" gewesen seien - nicht zuletzt deshalb, weil sie, so Breidecker weiter, "in den Köpfen der Zuhörer anderntags andauerten und fortgeschrieben wurden."
Man kann sie nachlesen in dem schmalen Bändchen, das unter dem Titel Die Belebung der toten Winkel jene fünf in Frankfurt gehaltenen Vorträge umfasst. Zwar verweist der 1943 geborene Autor und Büchner-Preisträger des Jahres 2004 darin immer wieder auch auf das eigene Romanschaffen, doch sollte man tunlichst vermeiden, die in Gestalt von Essays gekleideten Vorlesungen bloß als nachträgliche und nachgeschriebene Erläuterungen oder Lektürehilfen für die Prosa - vom Abschaffel-Roman von 1977 bis zur Liebesblödigkeit von 2005 - misszuverstehen. Nein, man kann und muss sie vielmehr als eine Art Fortsetzung, als Weiter-Schreiben der älteren Texte lesen. Wenn auch maßvoll theoriebewehrt mit Freud und Adorno als Gewährsmännern, so gelingt es Genazino immer, in den Vorlesungen erzählerisch seine Poetologie zu entwickeln. Und das heißt dann: Er ist ein wirklicher Essayist, wenn wir die nahezu klassische Definition von Lukács und Adorno zugrundelegen, dass der Essay irgendwo auf der unbestimmten Mitte zwischen (Erzähl-)Kunst und (theoretischem) Diskurs angesiedelt ist.
Mit scheinbar leichter Hand entfaltet Genazino seine poetologischen Vorstellungen, die um die Problemkreise von Zeitlichkeit und Dinghaftigkeit, von Unscheinbarkeit und Alltäglichkeit, von Epiphanie und dem Leben in großstädtischer Umgebung, schließlich von der Transformation des Flaneurs in die Figur des Streuners handeln. Er beschreibt Annäherungen an das Poetische, Einkreisungen eines Bereichs, den man auch das Gebiet des Ästhetischen nennen kann, wenn darunter das Andere des Lebens und der Alltäglichkeit gefasst wird, gleichsam deren Rückseite. Und diese von den Erzähltexten herausgehobene und verdichtete Kehrseite markiert dasjenige, was möglicherweise den Generalbass der Genazinoschen Überlegungen seit je charakterisiert: die "Botschaften des Unscheinbaren", auf die der Autor einmal hingewiesen hat und die die Erzähler seiner Prosatexte immer wieder neu darstellen.
"Plötzlich" erscheinen den Protagonisten und Erzählern in Genazinos Romanen einfache Dinge und Situationen, Plunder ebenso wie Gegenstände der Natur in einem anderen Licht; sie sehen und beschreiben sie und vermitteln demjenigen, was oftmals unterhalb der gewohnten Wahrnehmung angesiedelt ist, eine weitere Bedeutsamkeit. Deshalb knüpft Genazino dann auch in seiner letzten Vorlesung an die Tradition der europäischen Moderne an und verweist auf die fürs eigene Schreiben herausragenden Autoren Proust, Joyce und Woolf, deren Gemeinsamkeit er darin sieht, dass sie in aufsteigender Linie den vormals epiphanischen Augenblick der Ekstase, der Erkenntnis und von was auch immer zunehmend entauratisiert haben, ihm mithin also seine herausragende Bedeutung wieder genommen haben, um ihn letztendlich im gewöhnlichen Alltag zu verorten. Nämlich: als Verlust - an Stabilität, Sicherheit und Identität. Um auf Genazinos abschließende Bemerkungen über die Figur des Streuners, der im heutigen großstädtischen Raum den alten Flaneur ersetzt hat, hinzuweisen: wir als Leser ebenso wie auch die Erzähler, die uns stellvertretend in den Romanen solche Konstellationen vorführen, haben "für die Länge einer Epiphanie, die plötzliche Erkenntnis von der Menge dessen, was wir verloren haben."
Völlig zu Recht hebt Anja Hirsch, die die erste gründliche Monographie über den Erzähler Wilhelm Genazino geschrieben hat, in ihren luziden Werkinterpretationen die Aspekte des Sehens und der Zeit heraus. Man könne, so Hirsch an einer Stelle, Genazinos Romanwerk geradezu als eine "Phänomenologie des Sehens" charakterisieren; dieses Sehen oder vielmehr noch Schauen diene als "textauslösende Bewegung", weil eben "plötzlich" die Welt in einem anderen Licht erscheint. Oder, genauer noch, weil die gewöhnliche Wahrnehmung in der Zeit und das Verstreichen von Zeit überhaupt angehalten und aufgehoben werden. Jetzt, plötzlich, in diesem Moment der Epiphanie, so interpretiert Hirsch zutreffend Genazinos Erzählkonstruktion, wird der Erzähler vom "gedehnten Augenblick" (Genazino) überwältigt und sollen schließlich auch die Leser ebenfalls eine neue Erfahrung machen. Und sei dies auch im Sinne einer Verlustbilanz. Gewiss könnte darin durchaus das "Schwebeglück der Literatur" gesehen werden, womit Hirsch das Gesamtwerk Wilhelm Genazinos in einer gelungenen Formulierung pointiert.
Rotmund, Vorname Dieter, so heißt der Protagonist in Wilhelm Genazinos aktuellem neuen Roman Mittelmäßiges Heimweh. Er ist Controller einer Arzneimittelfabrik, 43-jährig und dabei, wie sich herausstellt, seine Familie, Frau und Tochter, zu verlieren, weil er sich nicht auf die ländliche Heimat des Schwarzwalds einstellen kann und seine Frau eben diese nicht zu verlassen bereit ist, zugleich weil er sich noch anschickt, Karriere in seiner Firma zu machen. Davon handelt der Text, aber auch noch von der Begegnung mit jener Sonja Schweitzer, der Vormieterin aus seinem Appartement, Scheckbetrügerin und Beischlafdiebin, die ebenso wie der gute Dieter behindert ist: Während ihr eine Brust fehlt, sind ihm nacheinander erst das linke Ohr abgefallen, schließlich ein kleiner Zeh abhanden gekommen.
So, und wer jetzt noch die naive Vermutung hegt, womöglich einen realistischen Roman vor sich zu haben, geht geradewegs in die Irre wie derjenige, der glaubt, eine phantastische, absurde oder sonst wie bloß komische Geschichte aufgetischt zu bekommen. Nein, man muss wohl diese Behinderungen - soll man sie "Teilkörperverlust" oder "Körperteilverlust" nennen? - als Verfremdungszeichen begreifen. Sie schaffen und setzen Distanz, fordern den Leser dazu auf, sich an Genazinos Spielen und Inszenierungen zu beteiligen. Daran vornehmlich, mit welchen Strategien und Taktiken, mit oder ohne wie großen Aufwand man - oder genauer noch: Mann - durch das kommt, was gemeinhin Leben genannt wird. Denn man sollte die Genazino´schen Prosatexte am besten als Versuchsanordnungen lesen. Anders als sein letzter Held aus dem Roman Die Liebesblödigkeit, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden kann, ist Dieter Rotmund vielmehr ein "Liebeswillfähriger", dessen Krux allerdings in seiner "Lebensunkundigkeit", wie es einmal heißt, besteht. So erlebt er dann seinen unspektakulären Alltag - darin setzt er die erkleckliche Reihe der Genazino´schen Helden vom Ende der siebziger Jahre bis heute nahtlos fort - zwischen purer Anpassung beziehungsweise dem Eindruck, sich unbedingt zugehörig fühlen zu wollen und der entgegengesetzten Haltung, sich wieder von allem entfernen zu müssen.
Übersetzt in die Gefilde von Erotik und Sexualität bedeutet das: entweder rasch eine neue Beziehung einzugehen; entweder mit Sonja oder gar - ganz am Ende des Textes mag man es sehen - mit der gerade kennen gelernten Schuldenberaterin Frau Krammig. Oder sich erst wieder gehörig Zeit zu lassen. Hinaufgeschrieben schließlich in die lichten Höhen der Metaphysik: wie lässt es sich leben - ob mit oder ohne Ohr und kleinem Zeh - im Widerspruch zwischen dem unausrottbaren Bedürfnis nach einem immanenten Lebenssinn und der gleichzeitigen Melancholie darüber, dass dieser Sinn auf immer fehlt.
Klingt nun selbst wieder melancholisch?! Soll es aber nicht, sondern vielmehr Heiterkeit (trotz alledem!) erzeugen. Was dann etwa so aussehen könnte, wie es der Held einmal beim Betrachten eines Hundes zu erkennen glaubt. Das Beeindruckende nämlich an Tieren sei, dass sie "empörungsfrei durch die Welt" streifen. Na, wenn das kein Segen ist.
Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh. Roman. Hanser, München 2007, 192 S., 17,90 EUR
Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen. Hanser, München 2006, 106 S., 14,90 EUR
Anja Hirsch: Schwebeglück der Literatur. Der Erzähler Wilhelm Genazino. Synchron, Heidelberg 2006, 301 S., 34,80 EUR
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