Die Unruhe, so hat es ein alter Mystiker, Thomas von Kempen, einmal ausgedrückt, sei der Hintern des Teufels - eine Formulierung, die Ernst Bloch schließlich noch zu einem Leitmotiv seines Denkens und Schreibens gemacht hat. Ja, warum soll man auch, spricht der weise Mann des Mittelalters weiter, Ruhe suchen, wo der Mensch zur Unruhe bestimmt ist. Die Ruhe kommt dann sowieso schon von alleine - irgendwann in der Ewigkeit des Paradieses und anderer seliger Jagdgründe.
Der in Freiburg lebende, 1967 geborene Schriftsteller Marc Buhl hat nun ein solches Buch der Unruhe geschrieben - einen Roman, der auf den ersten Blick ein Gegenbuch zu Nadolnys Klassiker Die Entdeckung der Langsamkeit darstellt. Denn wo Nadolny im Gewand des historischen Romans die Geschichte und Geschicke jenes Seefahrers John Franklin erzählt, der je langsamer er ist, desto schneller vorrückt in der Zeit und somit wirkliche Erfahrungen gewinnt, da bietet Buhl dem Leser die völlig entgegengesetzte Geschichte an.
Mensen Ernst, der historische Held seines Buches, ist nämlich bereits als Kind "so schnell, dass ihn die Hunde nicht einholen konnten." Und er träumt gar davon, irgendwann den Schritt zu tun, der ihn endgültig in die Lüfte hebt: "einmal würde es klappen, und er würde oben bleiben und nur eine Spur in der Luft hinterlassen, die der Wind leise verweht." Zu dieser Schnelligkeit kommen noch andere Fähigkeiten hinzu: er begreift Zusammenhänge schneller, erfasst blitzschnell Vorgänge und kann so zum Beispiel "die Bahn der Kugeln in der Luft erkennen."
Bloß - was macht so jemand, der im beschaulichen Winkel Norwegens 1795 das Licht der Welt erblickt hat, in einer Zeit der Postkutschen und schier unüberwindlicher Entfernungen? - Klar - er schlägt Kapital aus seinen Anlagen, denn er beginnt zu laufen, kreuz und quer durch die Lande und die Länder Europas, einmal sogar von Paris nach Moskau. Und zwar für Geld, als Botenläufer, schließlich Schauläufer, wobei er sogar einmal revolutionäre Postillen schmuggelt, Büchner-Weidigs Hessischen Landboten.
Überaus geschickt verquickt der Roman Fiktives mit Historischem und lässt Menschen an der Zeitgeschichte teilnehmen. Am Ende und durch Zuspruch sowie tatkräftige Unterstützung des Fürsten Pückler-Muskau bricht Mensen Ernst noch zum Lauf an die Quellen des Nils auf, wo der Vater verschollen sein soll und der Sohn, nachdem er auf dem Weg dorthin in der Sklavin Rashida die Liebe seines Lebens gefunden, aber sogleich auch schon wieder verloren hat, für einen kurzen Augenblick so etwas wie eine Epiphanie erlebt. Eine Epiphanie allerdings - darin bleibt Buhl schön in der Spur der klassisch modernen Autoren -, die bloß angedeutet, jedoch nicht ge- oder etwa erklärt wird. Lapidar heißen die beiden letzten Sätze: "Er lächelte. - Mensen blieb stehen."
Ja - um was danach zu tun? Sein Leben zu ändern? Wohl kaum. Er wird gewiss nach diesem kurzen Moments einer Lebens- oder Existenzerhellung sein Laufen wieder aufgenommen haben. Wie viele laufen, aber wer dabei zu sich zurück? Das hat ein anderer Extremläufer und Schriftsteller, Günter Herburger, einmal in einem seiner Laufbücher gefragt. Mensen, dem sein Autor in einer Nachbemerkung noch die lakonische Einschätzung hinterher ruft, dass von ihm dank Fürst Pückler wenigstens das Wort Sport in der Welt geblieben ist, wird dann folgendermaßen verabschiedet: "Ein einziges Wort. Mehr blieb nicht von Menschen Ernst."
Lesbar ist dieser wunderbare kleine Text nicht bloß als reicher und reichhaltiger historischer Roman, sondern zugleich noch als Parabel auf den modernen Menschen und seine Rastlosigkeit, die eine spätere Zeit als Hektik und Nervosität charakterisieren wird. Und auch der Horror des Kapitalismus blickt gierig um die Ecke, wenn ein Herzog, der sich Mensens Dienste versichern möchte, divinatorisch für die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts verkündet, dass, wer die Zeit und Uhren besitze, auch Herrscher über die Menschen sei, die in Massen und fabrikmäßig ausgebeutet werden können: "denn du bist der Mensch der Zukunft, Menschen, ... Wenn alle von deiner Sorte wären, könnte ich doppelt so viel produzieren ...".
Der moderne Mensch als Masse, als "Arbeiter" (in Ernst Jüngerschem Sinne), als von der (fremden) Zeit Beherrschter und daher auch, wie es an einer Stelle heißt, in ihr Ertrinkender. Er rennt eben nicht zu sich zurück, sondern vielmehr ständig vor sich selber weg.
Marc Buhl: Rashida oder Der Lauf zu den Quellen des Nils. Roman. Eichborn, Frankfurt am Main 2005, 208 S., 18,90 E; TB, Piper, 8 EUR
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