Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“. So Max Weber im Jahr 1919. Angesichts der heutigen Bankenkräche, angesichts von Untreue und Betrug in Chefetagen, wird allenthalben von Vertrauensverlust gesprochen. Wie denn auch nicht in einem System, das sich erklärtermaßen als repräsentatives versteht, dessen Zusammenhalt demnach vornehmlich durch das Vertrauen gestiftet wird, das die Repräsentierten in ihre Repräsentanten, Experten und Treuhänder setzen?
Es kann als Widerspruch der Epoche festgehalten werden, dass noch keine vor ihr so viel Raffinement für die Beschreibung und das Training von Führungseigenschaften aufbrachte, aber noch keine so viele offensichtliche Pfeifen hat davonjagen müssen. Eine ganze Generation von Bankmanagern, nämlich die der 50- bis 60-jährigen, versenkt sich selbst in dem größten je produzierten Milliardenloch der Nachkriegsgeschichte. Das sind die, vor denen uns unsere Eltern nicht gewarnt hatten.
Wie dürfen sich diejenigen fühlen, die mit ihnen ihr Sektfrühstück einnahmen? Und jene anderen, die Lobreden auf sie hielten? Wie erleben das große bürgerliche Zeitungen, die sich eher die Feder abgebissen hätten, als aufs Kapital etwas kommen zu lassen? Nun geifern sie im Stil der taz von vor 20 Jahren.
Alle haben mitgespielt
Die Politik hat sich vorläufig mit einem durchschaubaren „Haltet den Dieb!“ aus der Schusslinie gebracht. Alle, die vor Monaten noch andere Töne spuckten, singen nun das Lied des starken Staates und glauben, sich für die größte Subvention des Jahrhunderts feiern zu dürfen. Als wüsste das Publikum nicht, dass sie alle das Spiel mitgespielt haben und dass fast alle Parteien ihre Führungspersonal-Krise gerade erst hinter sich gebracht hatten, als die erste Nachkriegsgeneration abtreten musste. Oft ohne dass Ersatz bereit stand, und in einem Alter, in dem Adenauer erst so richtig losgelegt hatte.
Zu konstatieren ist eine durchgehende Krise des gesellschaftlichen Führungspersonals, entstanden aus einer mangelnden Fähigkeit zur klaren Voraussicht auf drohende Gefahren; aus mangelndem Willen, Konsequenzen aus einmal gewonnenen Einsichten zu ziehen, auch wenn sie kurzfristigen Interessen widersprechen. Zu konstatieren ist ein gravierender Mangel an Verantwortungsbewusstsein, zumal an Schuldbewusstsein, wenn die Karre schon selbstverschuldet im Dreck steckt; eine in Wirtschaft und Politik vorherrschende Neigung, Konflikte nicht offen auszusprechen, sondern unter den Teppich zu kehren; überhaupt eine Unfähigkeit, die Problemlagen jenseits vom Talk-Show-Smalltalk verständlich und mit Bezug auf gesellschaftliche Ursachen zu benennen, und zum eigenen Handeln in Beziehung zu setzen.
Kurzum, die Führungsklasse zeigt sich als Generation von Karrieristen und Dünnbrettbohrern, deren charakterliche Ausstattung in keinem Verhältnis steht zum Gewicht der Aufgaben und der Verantwortung, die ihnen von Gutgläubigen übertragen oder von Mitläufern überlassen wurden. Wann hat das eigentlich angefangen? Mehr als einmal wurde gesagt und geschrieben, dass die langen Jahre der Ära Kohl an der Republik nicht ohne tiefe Spuren vorübergehen würden. Man muss nur einmal die Lorbeerkränze der Deutschen sowie der Europäischen Einheit beiseite räumen und den Blick auf die politische Kultur richten.
Was ist davon zu halten, wenn ein Politiker von sich sagen kann, dass er alle Skandale durchgestanden hat, ohne dass etwas hängen blieb? Davon ist zu halten, dass damit die Charakterfigur eines Politikers geschaffen wurde, die alle Skandale durchsteht, ohne dass davon etwas hängen bleibt. Was ist von einer politischen Führungsschicht zu halten, die die Ära eines Politikers dahingehend analysiert, dass dieser die großen Versprechen einer Wende aus Feigheit vor den Widerständen nicht eingelöst habe, so dass die um 20 Jahre verschleppte „Drecksarbeit“ schließlich zur Unzeit von seinen Nachfolgern und von seiner damaligen Opposition nachgeholt werden musste?
Von diesen Führern ist zu sagen, dass sie die von ihnen diagnostizierte Feigheit, so es eine war, allesamt teilen und Kohl diesbezüglich nichts, aber auch gar nichts vorzuwerfen haben.
Wer sind die Bürger der vielbeschworenen Bürgergesellschaft, die jene Führungsschicht hervorbringt und pflegt? Die Logik der Rekrutierung von Führungspersonal hat sich im vergangenen Vierteljahrhundert völlig verändert. Es gab eine Zeit, da war die erste Frage, wofür eine oder einer steht. Jemand trat nach vorn, weil er etwas mitbrachte, sein oder ihr Projekt, das an der Spitze von niemand Anderem verkörpert und vertreten werden konnte. Die Einführung eines fortschrittlichen Produkts zur Erleichterung des Lebens, ein politisches Programm, das ein ungelöstes Problem der Lösung näher bringt. Das ist lange her.
Der Typus des Unternehmers ist in der gesellschaftlichen Hierarchie längst vom Manager abgelöst worden, dieser wird danach bewertet, wie viele seinesgleichen er schon weggebissen hat und für welche geglückten riskanten Manöver er bekannt ist. Der Politikergeneration, welche von der „Gnade der späten Geburt“ profitiert, fehlt allein schon die Sprache, in der ein Projekt mit seinen scharfen Ecken und Kanten in die Landschaft gesetzt und als für alle notwendig propagiert werden könnte. Vor einem Vierteljahrhundert konnte man sich noch an Franz-Josef Strauß abarbeiten, eine Formel wie „Mehr Demokratie wagen“ ging in die Geschichtsbücher ein. Kann jemand auswendig sagen, mit welchem Regierungsprogramm ein Schröder, eine Merkel antraten?
Gut, es wäre unanständig einem Zeitgenossen vorzuwerfen, dass ihm die Erfahrung von Weltkrieg, Verfolgung, Emigration und Neubeginn fehlt. Aber die Wahrheit bleibt, dass die Umstände ihre Charaktere erzeugen. Was müssen das für Unternehmensstrukturen sein, was für politische Parteien, was für Lebens- und Berufswege, die Sprach- und Mutlosigkeit, Stromlinie und Tageserfolg zum Prinzip erheben? Es wird ja schon gar nicht mehr bemerkt, wie sich die Maßstäbe verschoben haben.
Wer bei der ersten Ära Müntefering noch dachte, ob bei all dem scheinproletarischen, in Wahrheit bürokratisch reduzierten Code und dem hörbaren Peitschenknallen die Schuhe nicht ein bisschen groß seien, sieht sich bei der zweiten schon genötigt, mit Begriffen wie „sozialdemokratisches Urgestein“ oder gar „Jahrhundertfigur“ zu jonglieren.
Auf der anderen Seite nicht anders: Wusste man von Edmund Stoiber vor zwanzig Jahren wenig mehr, als dass er dem bayerischen Löwen immer brav die Aktentasche hinterhertrug, so erschien er, Redeglück hin oder her, angesichts seiner Nachfolger schon als schier unersetzbar.
Oder, ebenso instruktiv, erinnert sich noch jemand daran, dass Oskar Lafontaine im Feld der Ökophilosophen neben einem Ebermann, einem Fischer, einem Bahro immer ein wenig hölzern und farblos erschien. Heute wird er als der Chefdemagoge der Republik angefeindet und scheint in die Nachfolge eines Robespierre zu geraten.
Die Schere zwischen Größe der Probleme und Mittelmäßigkeit des Führungspersonals ist noch nie so weit aufgegangen wie heute. Man muss sich nur einmal erinnern, was Max Weber, einer der wahren Größen bürgerlichen Gesellschaftsdenkens, einem Politiker abzuverlangen können meinte. Nach Weltkrieg und Revolution sollten sich die Politiker das Koordinatensystem unvermeidlicher und gedanklich ausgearbeiteter Gegensätze stets vergegenwärtigen, um ihren Beruf ausüben zu können. Weber führte für die Gegensätze von Emotion und Ratio die Begriffe der Gesinnungs- und der Verantwortungsethik ein. Wer Führungsqualität beweisen wollte, musste zwischen beiden die Waage halten, die antagonistischen Logiken in seinen Handlungen balancieren und dabei nicht untergehen.
Theoretische Reflexion? Fehlt
Welche Führer in Wirtschaft und Politik ließen sich, jenseits von pflichtgemäßen Human-Engineering-Kursen und Teambildungstraining, von der Lektüre der Bilanzen oder der aktuellen Novellierungsvorlage abhalten zugunsten einer theoretischen Reflexion der Bedingungen ihres Handelns? Theorie und Wirtschaft, Theorie und Politik – verkrachte Verhältnisse. Die Herrschaften meinen, es genüge, das Wort Neoliberalismus, dessen, ernsthafte Analyse mehr als zwanzig Jahre zurückliegt, beiläufig in ein Statement einzustreuen.
Die Klage über die Schwäche der Verantwortlichen hat scheinbar einen Unterton von Sehnsucht nach dem starken Mann. Weit gefehlt. Die mangelnde Denk- und Charakterbildung der Führenden ist in der Verflachung der bürgerlichen Bildung tragisch besiegelt. Welcher junge Assistent, welche Referentin werden ihre Vorgesetzten auf der Basis von pragmatisch orientiertem Praxiswissen, erworben in einem sechssemestrigen Studium, das mittlerweile mehr verschult ist als die Schule, auf Mängel und Widersprüche aufmerksam machen können, gar die entscheidenden Impulse zur Erneuerung geben?
Welches Bürgertum dürfte von denen, die es nach vorn schiebt, Prinzipienfestigkeit und Streitkultur erwarten, wenn es doch selbst nur gelangweilt, desinteressiert und dumpf zuschaut? Von wem denn soll die nächste notwendige Revolte ausgehen, wenn die Jungen an der kurzen Leine von Karrieremustern und Softthinking gehalten werden? Wer soll der Bürger sein, dem in der Krise mehr einfällt, als die Restmillionen in die nächste Steueroase zu bringen oder zynisch abzuwarten, bis die Diadochen sich verschlissen haben?
Wieland Elfferding, Kulturphilosoph und Publizist, lebt in Berlin.
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