Aus einem Wahlkampf sollte sich ablesen lassen, welche politischen Lehren der Unterlegene aus der Niederlage ziehen könnte. Doch vielleicht wird sich bei der CDU/CSU kein rechtes Verlierergefühl einstellen, hätte sie, wäre Möllemann nicht gewesen, doch fast gewonnen. So mag es diesmal am Veränderungswillen fehlen. Und noch eine Schwierigkeit ergibt sich für einen Blick in die Zukunft. In Wahlkämpfen sollten die Parteien ihre Positionen zuspitzen, um die Wählerinnen und Wähler zur Entscheidung zu bringen. Damit haperte es bei der Bundestagswahl 2002 erheblich. Dem frustrierten Publikum wurde bald klar, dass sich die Politik ins Taktische verflüchtigen würde. Denn nach anfänglichen Verwirrspielen - Stoiber als vermuteter Franz Josef Strauß II - stellten sich SPD und CDU/CSU darauf ein, den Kampf mit demselben Rücken zur selben Wand zu führen. Wenn alle sich in der Mitte tummeln wollen, kann es nur noch darum gehen, dass, "Mutti, der mich da nicht hinlässt". Die Inszenierung dieses Spiels übernahmen die Medien auf ihren Schauplätzen. Sie heucheln nur, wenn sie nun behaupten, Wahlkämpfe seien auch früher schon so gewesen. Nein, das waren sie nicht. Niemand brauchte 1980 daran zu zweifeln, dass Franz Josef Strauss seine rechtspopulistischen Attacken gegen die SPD ernst meinte, von Stoiber wissen wir bis heute nicht, ob er nur "Kreide gefressen" hat.
Werden die Parteien also nun ihr "wahres Gesicht" zeigen? Woher werden wir wissen, ob es das "wahre" oder ein neues Gesicht ist? Aus dem Zirkelschluss der politischen Medieninszenierungen kommt nur heraus, wer sich den objektiven Problemlagen zuwendet. Wir müssen also weit hinter den Beginn des Wahlkampfes zurückgehen und uns an die Ausgangskonstellation erinnern. Die ungelösten Probleme Deutschlands bleiben, aus der Sicht einer kapitalistischen Politik, die nachzuholende Vollendung des neoliberalen Projekts im Innern und die Neubestimmung der Rolle Deutschlands in der Weltpolitik. Die innenpolitischen Reizthemen des Wahlkampfs - "Blauer Brief" aus Brüssel, Großpleiten, Arbeitslosigkeit, Finanzierung der Flutfolgen - verweisen nur auf die Hinterlassenschaft Kohls, welcher, im Unterschied zu Thatcher und Reagan, die Wende zu einem den Sozialstaat ablösenden Gesellschaftsmodell nicht zu Ende führte.
Die Regierung Schröder/Fischer hat, wie sich an den späten Plänen der Hartz-Kommission vielleicht am deutlichsten zeigte, die Problemmasse in den vergangenen vier Jahren nur ein Stück weiter vor sich hergeschoben. Der größere Schub an Deregulierung und Abbau sozialstaatlicher Garantien steht noch bevor. Die Osterweiterung der EU und die Beteiligung Deutschlands an einer "Weltinnenpolitik" wird den Druck auf die hergebrachten Formen des sozialen Ausgleichs erhöhen. Die privilegierte Stellung (west-)deutscher Arbeitnehmer gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen an den europäischen Peripherien wird verschwinden. Wie die dabei unvermeidlich auftretenden Konflikte geschlichtet werden sollen, weiß heute noch niemand.
Das ist die Lage. Was bedeutet sie für die CDU/CSU? Die SPD wird, unter dem Eindruck der Zwänge, die sich nach der Wahl wieder in den Vordergrund drängen, auf der Linie der arbeitsmarktpolitischen Vorschläge ihren Kurs der Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft wieder verstärken. Damit wird sie der CDU den Wind aus den Segeln nehmen. Zugleich haben das bundesweite Auftreten der Schillpartei und die kalkulierten Berührungen Möllemanns mit rechtspopulistischen Themen die CDU/CSU unter Druck gesetzt. Denn seit den Tagen des Franz Josef Strauß ist das Credo der deutschen Konservativen, dass es rechts von ihr keine relevante Partei geben solle. Zwar haben die rechtspopulistischen Strömungen, betrachtet man das Wahlergebnis, zur Zeit in Deutschland nicht die gleiche Chance wie in anderen europäischen Ländern. Aber warum sollte es hier anders gehen als in jenen Ländern, wo der Rechtspopulismus das Echo auf ein verschärftes Tempo der Neoliberalisierung der Gesellschaft ist? Jedenfalls war der äußerst knappe Wahlausgang für die CDU - nicht weniger als für die SPD - auch ein Lehrstück über die Enge des politischen Raumes in der "Mitte". Ausfallschritte nach rechts werden eine Versuchung bleiben.
Aber, so könnte gefragt werden, ist die Substanz der rechtspopulistischen Wende aus den achtziger Jahren nicht verbraucht? Einen Restposten hat Edmund Stoiber im Wahlkampf verwaltet: sein Eintreten für die "kleinen Leute" gegenüber der SPD, die er als Vertreterin des "Großkapitals" brandmarkte. Aber wer sind die "kleinen Leute"? Die CDU/CSU wird selbst kräftig mithelfen, die Bedeutung der Bauern als Wahlvolk im Zuge der EU-Erweiterung gegen Null tendieren zu lassen. Mit den Einzelhändlern und Handwerkern wird es nicht anders bestellt sein, so dass der berühmte "Mittelstand" einerseits bei drei-, vierhundert Beschäftigten anfängt, sich andererseits zu einer symbolischen Existenz verflüchtigt. Diese muss allerdings keineswegs bedeutungslos sein. Stellt es, weiter gedacht, noch eine Sensation dar, wenn die Wahlforscher melden, die CDU habe der SPD Arbeiterstimmen abgejagt, wo doch die SPD längst "Adieu au prolétariat" gesagt hat?
Wir verwenden den Begriff des Populismus allerdings anders als in der verwaschenen Alltagsversion: nicht, dem Volk nach dem Mund zu reden und auch nicht das Zündeln mit Tabus ist populistisch; sondern die Mobilisierung des in Interessengegensätzen gründenden Ressentiments der "kleinen Leute" gegen "die da oben". Diese politische Struktur bleibt bestehen und die Problemlagen bleiben, die sie in Bewegung setzen. Allerdings gelingt, im Unterschied zu den historischen Populismen, der Bezug auf eine tradierte Folklore immer weniger, sei es die der Arbeiterklasse, sei es die des Bierzelts. Eben weil es den Parteien immer weniger gelingt, sich auf bestimmte Milieus zu beziehen, ersetzen sie diesen Bezug durch mediale Mobilisierung. Vielleicht ist der Kandidat der SPD hier moderner, weil er sich auf "das Milieu" schon lange nicht mehr stützt. Wenn Edmund Stoiber lernt, dass die Menschen nördlich des Mains und östlich der Elbe den Heiligenschein vom großen Franz Josef nicht automatisch optisch ergänzen, wie´s die in weißblauen Bierzelten wohl noch tun, dann könnte er eine zweite Chance haben.
Die deutschen Konservativen sind zum zweiten Mal bei dem Versuch nur knapp gescheitert, mit ihrem Spitzenkandidaten den "Weißwurstäquator", also die preußische Milieugrenze zu durchstoßen. Auch Franz Josef Strauß hatte es 1980 fast geschafft. Wie hätte erst Edmund Stoiber abgeschnitten, hätte er, wie sein politischer Übervater, als Weltpolitiker auftrumpfen können, statt den Geruch eines bloßen, wenn auch erfolgreichen Provinzpolitikers mit sich zu führen! Es kann also durchaus sein, dass die Führungsfrage in der CDU/CSU erneut gestellt wird. Die Union wird lernen wollen, wie sie, nach Helmut Kohl, Führungspersönlichkeiten hervorbringen kann, die zwischen Koblenz und Flensburg, Aachen und Frankfurt/Oder akzeptiert werden.
Vergessen wir bei all dem nicht, dass die CDU/CSU mit der SPD gleich auf liegt. Ob Schröder der Stammtischdiskurs seiner schwäbischen Justizministerin über außenpolitische Ablenkung von Problemen im Land auch deswegen so auf den Senkel ging, weil er ja selbst die außenpolitische Karte ziehen musste, um die Wahl noch zu gewinnen? Die CDU/CSU konnte auf Schröders überraschende Wende in der Frage von Krieg und Frieden nur mit einem "Ja, aber..." antworten und die alten atlantischen Werte aus der Nachkriegszeit beschwören. In der Tat, worin besteht eigentlich die eigenständige außenpolitische Konzeption der deutschen Konservativen, nachdem der Kalte Krieg längst vorbei, das Nationale sowieso nicht mehr ihr Terrain und die Kriegsherrenschaft zur SPD übergegangen ist? Hier ließe sich zum Beispiel an die konzeptionellen Vorstöße von Wolfgang Schäuble zur Zukunft der EU denken und daran, dass sich die Europaeuphorie Schröders in Grenzen hält. Wird das ein Feld sein, auf dem sich die Konservativen profilieren werden?
Die Parlamentsfraktionen von CDU und CSU erleben einen Generationswechsel, dessen politische Folgen erst noch ermessen werden wollen. Die Kohls, Geisslers und Süßmuths treten ab. Schon für die nächste Generation, die Kochs, Wulffs, und Müllers, die von Helmut Kohl einen schärferen neoliberalen Kurs verlangten, stellt die Bindekraft des Sozialstaats in gesellschaftlichen Krisen keine biographisch grundierte Erfahrung mehr dar. Wofür wird die darauf folgende Generation der nachrückenden 35-jährigen Konservativen stehen?n
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