Der Bergsommer des Jahres 2008 ist noch nicht zu Ende, weil die schönsten Wanderungen erst in der klaren Herbstluft stattfinden. Hoffentlich kann jetzt wenigstens die Liste der Bergopfer geschlossen werden. Erinnern wir uns noch? Da sterben zwei Teilnehmer eines Massenberglaufs an Deutschlands höchstem Berg bei einem Wintereinbruch. Ursache: Erfrieren, weil der Körper das Management der Blutzufuhr in die Peripherien wegen der Kälte oder ins Zentrum wegen der Überanstrengung nicht mehr schafft. Der Veranstalter schiebt die Verantwortung auf die Teilnehmer, die alle "erfahren" seien. Wenig später gelangt die Meldung vom tödlichen Spaltensturz eines in der Fachwelt bekannten Bergsteigers am Nanga Parbat in die Medien. Hier ging es um eine neue Route durch eine erklärtermaßen gefährliche Wand, die immer wieder Eisbrocken herablässt. Am K2 wird die Liste der Toten des "schwersten Achttausenders" länger und schließlich sterben am Mont Blanc gleich acht Bergsteiger auf einen Schlag.
Die Medien verfügen über einen sicheren Instinkt, der ihnen sagt, welches ein spektakulärer Bergtoter ist und welcher mit einer kleinen Meldung auskommt. Der Vater, der sich auf einen vielbegangenen Klettersteig in einer gewitterverdächtigen Wetterlage erst um die Mittagszeit aufmacht und seinen durch Blitzschlag verletzten Sohn nach gescheitertem Rettungsversuch schließlich als Überlebenden zurücklässt, bringt es nur zu regionaler Aufmerksamkeit. Doch die Klassengesellschaft der Medienaufmerksamkeit ist keine bergspezifische Sache, sie herrscht auch bei anderen Themen. Die Berge bilden aber einen eigenen Knoten dramatischer Verwicklungen, der schon über viele Jahre geknüpft wird. Mal kommen die Berge herab, so das Matterhorn im "Jahrhundertsommer" 2003. Seitdem ist das Wort Permafrost, zuvor nur Tundrakennern geläufig, in den allgemeinen Sprachschatz eingegangen. Mehrfach in den vergangenen Jahren wird ein Millionenpublikum in "eisige Höhen" geführt, um es mit dem Gefühl eines Menschen zu konfrontieren, der sich an gefrorenen Bergtoten vorbei einem Achttausendergipfel entgegenschleppt. Dies bildet die Folie dafür, dass die wiederaufgelegte tragische Geschichte um den Bergtod des einen Messnerbruders jenen Erregungswert erhält, von dem Peter Sloterdijk meint, er regiere die Welt vielleicht mehr als der Geldwert. Was ist da los?
Die neuzeitliche Bergfaszination hat eine mehr als zweihundertjährige Geschichte. In ihr laufen widersprüchliche Entwicklungslinien der Moderne zusammen und verstärken sich gegenseitig. Die Berge waren, gleichsam als innerkontinentale Pole, die letzten weißen Flecken der Landkarte, nachdem das meiste schon entdeckt und erobert war. Wie sehr dies eine urbane Projektion war, zeigen die romantischen Apotheosen menschenleerer Bergwildnis in der Malerei, welche die Aborigines der Alpen ganz winzig zeigen, damit die "menschenleere Natur" umso begieriger auf ihre Entdeckung und Eroberung durch die gelehrten Aristokraten und Großbürger aus den Städten wartet. C. F. Friedrichs Watzmann bildet das Modell. Die Berge werden zu den letzten inneren Kolonien, wo das schöne und gefährliche Wilde regiert. Dass die Alpeneroberung, wie die Reisen der Entdecker, wissenschaftlich motiviert wurde, wirft nur ein bezeichnendes Licht auf die Kehrseite der Moderne, die zur selben Zeit die Metropolen und die Menschennatur im Zuge der Industrialisierung alles andere als "unberührt" ließ.
Das ist lange her, könnte gesagt werden. Doch, wie öfter in der bürgerlichen Gesellschaft, dauerte es ein weiteres Jahrhundert, bis die Beschäftigung einzelner Bergaristokraten in die unteren Bevölkerungsklassen durchsickerte und die Familienväter in rot-weiß-kariertem Hemd und Loden den Umkreis "ihrer" Schutzhütte als Schauplatz für sekundäre Pionier- und Heldentaten entdeckten und, zurück in der Stadt, schon mal gern die heiligen Schauer des Gipfelglücks auf Zelluloid nacherleben wollten, gespielt von Leni Riefenstahl und Luis Trenker. Der Massentourismus der Zwischenkriegszeit und erneut der fünfziger Jahre nimmt jene mentalen Konjunkturen wieder auf, die durch Weltkriege und Faschismus zugespitzt und deformiert waren.
Kein Zweifel, der Bedarf an romantischem Bergmythos hält solange an, wie die dunkle Seite der Moderne in eine äußere, "unschuldige" Natur ausgelagert wird. Damit sollte es nun aber doch wirklich vorbei sein, nachdem bereits die Postmoderne in die Jahre gekommen ist. Und tatsächlich markieren die Revolten der Achttausenderhelden der siebziger Jahre sowie der Boulderer und Kletterer in der Nachhippiezeit, beide gegen den traditionellen heroischen Alpinismus gerichtet, im Nachhinein betrachtet eine Zäsur und eine Wende in der Platzierung der Bergwelt im symbolischen Repertoir des Zeitgeistes. Ein Reinhold Messner setzte, vermittelt durch eine technische und ökologische Revolutionierung des Höhenbergsteigens, die Ichphilosophie im Alpinismus durch. Die Leistungen der klassischen Alpinisten maßen sich an Höhen, Höhenmetern und Schwierigkeitsgraden ihrer Objekte: der Berge. Sie verblieben insofern im alten geografischen Muster, das von der umgebenden, äußeren Natur geprägt ist. Die jungen Wilden der siebziger und beginnenden achtziger Jahre machen die Überwindung des inneren Schweinehunds zum Hauptthema. Die zu bezwingende Grenze ist nun weniger die einer äußeren Höhe, sondern die innere Grenze der menschlichen Physis und der psychischen Disposition. Der Bergmediziner muss mit und gelangt zu Ruhm, weil er die Körperfunktionen in der Todeszone zu überwachen versteht, wie später die extremen Mountainbiker sich mehr mit Blutdruck und Laktatwerten beschäftigen als mit dem Vorkommen von Edelweiß oder Deutschem Enzian. Der "Durst nach Todesgefahr" (Messners Gewährsmann Guido Lammer) wird zum Slogan einer Kultur des Extremen, deren Reservierung für ein paar Auserwählte in Zeiten der Globalisierung nur eine Naivität oder aber eine clevere Markenstrategie sein konnte.
Die frustrierten Haschrebellen aus Los Angeles und Frisco landeten im Yosemite-Nationalpark und schlugen ihre Zelte unter ziemlich glatten Felsen auf. Diese zu bezwingen hatte auch mehr mit Seelendiätetik und Fingerspitzengefühl zu tun als mit Seillängen, Pickel und Steigeisen. Diese beiden Linien, die des Messnerschen Grenzgangs und die der Klettergymnastik an abweisenden Oberflächen, sind in die Gegenwart zu verfolgen und bestimmen heute das Bild. Die Wende in der Beschäftigung mit dem Berg, die letztlich auch in der Halle stattfinden kann, korrespondiert mit den diversen Psycho- und Fitnesswellen, welche die Sehnsucht nach dem unsterblichen Körper - und analog nach endlos verfügbarer Natur - zum Massenthema gemacht haben. Der Subjektivismus ist, wie in den Medizinkulten amerikanisierter Gesellschaften üblich, mit technischen Utopien gepaart, die sich in Outfit, Styling, privatem Doping und ständig revolutionierter Ausrüstung materialisieren. Von Messners heroischem Mann-gegen-Berg ohne Haken und Ösen ist da nicht viel übriggeblieben. Noch bevor irgendein Muskel durch hartes Training anschwillt, umschmeicheln ihn schon hauchdünne Kunsthäute, welche den Windwiderstand reduzieren. Als reines Marktphänomen wäre dies unterschätzt, denn der utopische Aspekt ist nicht zu ignorieren, eben das Versprechen von widerstandslosem, schweißfreiem und rundum glücklichem Auf- und Abstieg.
Puls- und Höhenmesser sind absolut unromantisch, instrumentieren und stützen jedoch als Outdoor-Apotheke das in den Bergen ausgesetzte Ich. Um Missverständnisse zu vermeiden - gewiss reicht der romantische Bergmythos in die Gegenwart hinein, er wird jedoch durch die postmodernen Körper- und Psychotechniken überlagert und dominiert. Der traditionelle Alpinismus fußt zwar auf einer durch und durch ideologischen Konstruktion der Bergwildnis mit ihren Helden und Heldentaten, er hält aber gerade dadurch an einem Innen-Außenverhältnis, an einer grundlegenden Distanz zwischen Mensch und außermenschlicher Natur fest. In verquer pathetischer Gestalt bewahrt die alte Alpenromantik eine Ahnung von der Unverfügbarkeit der Berge, von Achtung und Gefahr. Wird diese Spannung in das Innenverhältnis eines sich trimmenden und verjüngenden Ego verlegt, lässt sie nach und löst sich schließlich auf.
Die Schauplätze der globalen Fitness werden gleichgültig. Die Menschen stürzen aus der Gondel und betreten mit ihren Turnschuhen den Gletscher, als seien sie im Squashcenter. Durchtrainierte Mitsechziger tragen ihr Bike, unerkannt durch die Plexiglasrundumversiegelung des Gesichts, die letzten 300 von 1200 Höhenmeter auf einem Bergsteig zum Joch hinauf und sehen bei der Abfahrt von der umgebenden Landschaft wenig mehr als die zur Seite spritzenden Steine, die das Ende der Fahrt bedeuten könnten. Die ideale Kletterbedingung ist im Grunde nur in der Halle zu haben, weil sie Wetterstürze ausschließt. Wo man auch hinschaut, die Arena Mensch-Natur wird getauscht mit der Trainingszelle Mensch-Gerät.
Nun scheint das für den Himalayatourismus nicht im selben Maße zu gelten. Hier muss unterschieden werden. Die Erstbegeher von heute folgen immer noch der Logik der Einmaligkeit und des Abenteuers. Klar, dass nach mehr als einem halben Jahrhundert nur noch Routen übrigbleiben, bei denen die Veteranen den Kopf schütteln. Die letzte Steigerung des Rekordwahns ist die Tollkühnheit. Ganz anders liegt das beim Massentourismus an den Achttausendern. Hier folgen die Menschen in "eisigen Höhen" derselben Logik, nach der sie auch in den Alpen ins Verderben laufen. Viele wissen tatsächlich nicht, wo sie sich befinden. Das fängt beim unbekannten Touristen an, der ein alpines Gelände ohne Karte betritt, als sei es die Parklandschaft vor seiner Haustür. Und es endet mit Städtern, die nach einigen übungsweisen Stretch-your-limits-Aktionen und der obligatorischen Mont-Blanc-Besteigung zum Höhentraining meinen, sie könnten nun auch noch für eine fünfstellige Summe einen Himalayagipfel buchen. Dass da nichts "gebucht" werden kann, dass der Unterschied zwischen Führer und Geführtem ab 6000 Meter Höhe entfällt, dass die Berechenbarkeit eines solchen Unternehmens gegen null geht, - all das wird nicht mehr wahrgenommen in einer Welt, die nach den Kategorien Management, Zielorientierung und Technik funktionieren soll.
Wäre der Diskurs noch aktuell, könnte von einer Deterritorialisierung des Bergsteigens gesprochen werden. Das bedeutet zunächst nichts weiter, als dass sich die Bewegung in den Bergen vom bestimmten geografischen Ort ablöst.
Das ist viel, wenn nicht alles. Der klassische Berggeher hatte viele Jahre Versenkung in ein singuläres Territorium hinter sich: Routenstudium, Beschäftigung mit den Vorgängern, mehrfache Anläufe und Rückzüge, Bekanntschaft mit den unverwechselbaren Gesichtszügen des Bergs, mit seinem Wetter - alle großen Berge haben ihr eigenes Wetter -, seinem Gestein, seiner Gliederung in mögliche Etappen. Der postmoderne Bergsteiger wählt eine Unternehmung wie ein Angebot aus einem Warenhauskatalog. Im Internet steht ja alles. Regale voller Wander-, Berg- und Kletterführer verbreiten Wahrheiten über Trips auf den Mount Ego, der in der Sammlung noch fehlt. Nur, - der Kletteranorak kann, passt er nicht, umgetauscht werden. Die Austauschbarkeit aller Orte und Wege bleibt eine höchste gefährliche Illusion, deren Verbreitung bestraft gehörte.
Mancher mag sagen: In den Bergen kamen immer schon Menschen um, also auch heute, - eben wie im Straßenverkehr. Genau, letzteres ist das Bemerkenswerte. Menschen können im Prinzip nicht Autofahren, das heißt sie sind in extremen Situationen durch die technische Dynamik des Geräts auf jeden Fall überfordert. Das war in den Bergen früher nicht so, es wird aber so. Und es wird so, weil das Bergsteigen in Grundzügen dem Autofahren ähnlicher wird. Also, schalten wir besser den Autopiloten ein.n
Wieland Elfferding, Lehrer und Publizist, lebt in Berlin und beschäftigt sich u.a. mit Fragen der Landschaftswahrnehmung und -nutzung. Er schrieb zusammen mit Anke Bünz-Elfferding Die Alpen-Sherpas. Geschichten vom Hüttentragen, Innsbruck 2003.
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