Lafontaine bestand, wie man hören konnte, darauf, daß die regierende Koalition in der Frage des Staatsangehörigkeitsrechts einen Kompromiß mit der FDP finden sollte, der eine Mehrheit im Bundesrat erhalten würde. Am Tag der abschließenden Verhandlungen in der »Koalitionsrunde« trat Lafontaine von allen seinen politischen Ämtern zurück. Zufälliges zeitliches Zusammentreffen oder innerer Zusammenhang durch weitreichende politische Veränderungen?
Nachdem sich die gesamte Aufmerksamkeit für die politische Dramatik bei der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts auf den Inhalt gerichtet hat, ist es an der Zeit, die Ereignisse unter dem Gesichtspunkt der politischen Form zu betrachten. Die FDP hat bei der letzten Landtagswahl in Hessen verloren, durch die Verhandlungen von SPD und Grünen mit ihr über das neue Staatsangehörigkeitsrecht hat sie gewonnen.
Es geschieht, was mit der FDP immer schon geschah: die vielmal totgesagte, mickrige Partei taucht unerhofft im Zentrum des politischen Geschehens auf, weil an ihr als Mehrheitsbeschafferin keiner vorbeikommt. Denn aus diesem Grund sitzt sie in Rheinland-Pfalz und neuerdings wieder in Hessen in der Regierung. Aus demselben Grund ist sie für die Mehrheit im Bundesrat wichtig, die ein in der Länderkammer zustimmungspflichtiges Gesetz passieren lassen kann. Daher eben haben die Spitzenpolitiker der Koalition mit dem stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Brüderle, Rheinland-Pfalz, verhandelt, der wie durch ein Wunder die »Optionslösung« der kleinen Oppositionspartei zur Lösung der Regierung machte.
Unter Gesichtspunkten der politischen Form verdienen im Zusammenhang mit dem plötzlichen Auftreten der FDP in den Regierungsgeschäften zunächst zwei Überlegungen Beachtung. Einmal kann die ganze Geschichte als erste nachdrückliche Einübung der Newcomer, also der Grünen, in die korporatistischen Rituale der Koalitions- und sonstigen Runden betrachtet werden. Was als System Kohl noch vor einem Jahr Gegenstand harter Kritik war, geht den Nachfolgern bereits in Fleisch und Blut über. Alle Beteiligten werden sich an die langfristigen Nachteile des Systems erinnern: Verlagerung der politischen Macht von den Parlamentsfraktionen in die Vorstände und von da in die zwischenparteilichen, in der Verfassung nicht vorgesehenen informellen Gremien; Abschleifen der Parteiprofile zugunsten einer so allgegenwärtigen wie für die WählerInnen wenig nachvollziehbaren »Mitte«; Entparlamentarisierung der Politik; Hypertrophie der Medien auf der ewigen Jagd nach den Geheimnissen der letzten geheimen »Runden«. Und schließlich fördert die parteipolitische Planung der Entscheidungskette von der Regierung über den Bundestag bis in den Bundesrat eine Aushöhlung des Föderalismus, da der Bundesrat nicht mehr als originäres Forum der Länderinteressen fungiert, sondern als Nachhut der Bundestagsmehrheit.
Kommt an der FDP wirklich niemand vorbei? Oder hätte es in der Frage auch eine andere Lösung gegeben? Gibt es nicht auch in der CDU unterschiedliche Auffassungen zum Problem und daher die Möglichkeit, die Gegensätze in dieser Partei in der Ausländerfrage, und zumal in ihrer rechtspopulistischen Beantwortung, auszunutzen? Wurde die FDP für die SPD nur wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat interessant, oder weil sie ohnehin als der besser geeignete Bündnispartner erscheint? Manche Zeitungen plapperten jedenfalls sofort den Sinn nach, welchen das wirkliche Arrangement ohnehin zu verstehen gab: die SPD probiert schon mal einen anderen Koalitionspartner aus, weil es mit den Grünen so schwierig ist, sprich: um diese gehörig unter Druck zu setzen.
Ganz gleich wie realistisch diese Überlegung ist, passen die beiden Ereignisse unter dem Motto des Wirtschaftsliberalismus zweifellos zusammen: Lafontaine geht, weil sich die wirtschaftsliberale Linie des Kanzlers mit seiner eigenen immer weniger vereinbaren läßt - alle anderen veröffentlichten Begründungen stellen den Schaum auf der Welle und nicht diese selbst dar. Zugleich erhält die wirtschaftsliberale FDP, eben noch glanzloser Verhinderer mancher Vorhaben der Regierung Kohl, Gelegenheit zu einem Auftritt, der in Erinnerung bleibt. Als habe die Politik den Finger in den Schlund gesteckt, erzeugt das Doppelereignis der vergangenen Woche endlose Auswürfe wirtschaftsliberaler Parolen - bis weit in die Reihen der Grünen hinein.
Derselbe Lafontaine, der auf einem Konsens mit der FDP in der Doppelpaßfrage bestand und dem sie nun alle hinterherkotzen, war einige Tage zuvor durch seine Äußerung aus der Reihe gefallen, man solle doch die PDS aus ihrer Märtyrerrolle holen und sie als politische Partei ernstnehmen, ebenso ernst, könnte hinzugefügt werden, wie die FDP, die schon häufig nicht mehr ernstgenommen wurde. Da war doch so etwas wie eine Strategie zu erkennen: sowohl mit der FDP als auch mit der PDS, mit der einen womöglich, um sie aus der Verbannung in die Manchesterecke herauszuholen, mit der anderen wegen der ansonsten unaufhebbaren Ost-West-Spaltung des deutschen Parteiensystems. Politik als Kunst, vom »Stellungs«- in den »Bewegungskrieg« der Parteien überzugehen. Gelänge beides, würde das die anderen zementierten Positionen im Parteiensystem nicht unberührt lassen, z.B. die der CDU. Gelingt nur eines von beiden, bleibt womöglich alles beim alten.
Vielleicht war Lafontaine der einzige in der neuen Regierung, der das Schröderwort von der neuen Mitte ernstnahm im Sinne einer Mitte, die erst geschaffen, aus den alten Kräften durch deren Veränderung herausmodelliert werden muß. Nun, mit Schröder, Schrohl und Köder, nach diesem Auftritt der FDP, der nichts abverlangt wird, als daß sie als kleinste Oppositionspartei ihre Position ohne Abstriche zur Regierungspolitik zu machen erlaubt, kommt wohl nur eine ziemlich wohlbekannte und alte Mitte heraus, die in jedem Aktenkoffer eines Bankers Platz hat.
Die liberale Partei Deutschlands, Partei der Marktfreiheit und der Globalisierung, die keinem Dollar und keinem Euro ansehen will, durch welche sauberen oder dreckigen Hände er gegangen ist, die zumindest in Sonntagsreden sich an den weltbürgerlichen Universalismus des Oh-Mensch erinnert, diese Partei stellt die Nationalstaatlichkeit so hoch über alles, daß sie sich langfristig jeden Gutmenschen wie jeden Galgenvogel nur als Entweder-Oder, als Türken oder Deutschen vorstellen kann. Der Freiburger Kreis der FDP-Linken forderte dieser Tage, die Partei solle Anwalt eines Bundesstaats Europa werden und das Projekt einer Europäischen Verfassung vorantreiben. Europäischer Bundesbürger kann man, nach dem letzten Wort des Liberalismus, offenbar nur werden, wenn man sich zuvor ohne Wenn und Aber für einen der in jenem Bundesstaat aufgehenden Nationalstaaten entschieden hat.
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