Stars und Sterne

Jubiläum Die Russische Revolution wird 100 Jahre alt. Welche Bilder man mit ihr verbindet, ist auch eine Frage des Zeitgeists
Ausgabe 02/2017

Das Jahr 2017, in dem die Oktoberrevolution 100 wird, hat in ihrem Heimatland Russland ganz besonders begonnen. Nachdem das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, mit der traditionellen Messe in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale am 7. Januar das russisch-orthodoxe Weihnachtsfest eingeläutet hatte, versäumte er es in seiner anschließenden Rede nicht, sich zur aktuellen Kunst und Kultur zu äußern: „Ich bin für die Freiheit der Kunst, für die Freiheit der Selbstdarstellung (…) für das Fehlen der Zensur, aber auch für die gegenseitige Achtung und den Kampf gegen Vandalismus und gegen Provokation.“ Dabei betonte er, dass manche zeitgenössischen Kunstwerke „den Menschen in ein Tier verwandeln, seinen Instinkt entsklaven und nur die abscheulichen Erscheinungen der menschlichen Natur fördern“. Welche Werke der Patriarch im Sinn hatte, kann man nur deuten. Mit großer Wahrscheinlichkeit zählen Pussy Riot dazu, die ja in der Christ-Erlöser-Kathedrale ihr Punk-Gebet gegen die Allianz von Kirche und Staat vortrugen, oder auch der Aktionskünstler Pjotr Pawlenski. Nach Meinung des Patriarchen gilt es, die Kunst zu fördern, die „den Menschen erhebt, ihm Kraft gibt, zu lieben, zu opfern und zu arbeiten, denn dann ist sie ja wahrhaftige Kultur“.

Als sich die Oktoberrevolution vor 90 Jahren zum zehnten Mal jährte, wurde Sergei Eisenstein vom Jubiläumskomitee beauftragt, einen Film anzufertigen. Der sowjetische Starregisseur entschied sich damals für ein außergewöhnliches Anfangsszenario. In tiefdunkler Nacht erscheint das Denkmal Alexanders III. Der russische Imperator thront vor der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, deren Einweihung in seine Regierungszeit fiel. Plötzlich laufen die Massen die Treppen zum Denkmal hoch. Eine Bäuerin ballt die Faust, über ihr wird eine Leiter an das Denkmal gestellt. In der Morgendämmerung wird der versteinerte Zar energisch in Fesseln gelegt, eine Schlinge liegt um seinen Hals. Die Seile spannen sich und reißen den Zaren in Einzelteile, das Denkmal stürzt in sich zusammen.

Kirchen zu Schwimmbädern

Das Besondere dieser Bilder, die Eisenstein für seinen epochalen Film Oktober und für die Darstellung der Februarrevolution 1917 wählte, mit der die Zarenherrschaft in Russland endete, verbirgt sich in der historischen Ungenauigkeit. In Wirklichkeit blieb das Denkmal des Zaren während des Revolutionsjahrs bis zum Folgejahr stehen und wurde erst im Sommer 1918 demontiert. Das vor der Kathedralenkulisse einstürzende Denkmal und das erhabene Schwenken des Weihrauchfasses in der Kirche sollten wohl dazu beitragen, dass die Christ-Erlöser-Kathedrale als konterrevolutionärer Ort wahrgenommen wurde, gab es doch die Absicht, sie in den Folgejahren zu sprengen.

Zu Beginn der 1930er Jahre wurde das Vorhaben vollzogen, auf dem geweihten Platz der Kathedrale sollte der 300 Meter hohe Palast der Sowjets mit 100 Meter großer Leninstatue darauf errichtet werden. Zwar blieb die Errichtung des Palasts, wie die Erbauung des Kommunismus, ein utopisches Projekt, die Geschichte der Sowjetunion ist mit diesem Platz jedoch eng verknüpft. Als die Piepsignale des Sputniks 1 aus dem Weltall 1957 auf der Erde Jubel und Schock auslösten, tauften die Moskauer die für den Palast vorgesehene Baugrube „Baikonur“: mit 130 Metern Durchmesser und Baukränen, die wie Raketenrampen in den Himmel ragten, sah sie auch wie eine Art Weltraumbahnhof aus. Zwar wurde die Grube 1960 in ein Schwimmbad umgewandelt, die Feierlichkeiten zu 50 Jahren Oktoberrevolution blieben 1967 jedoch stark mit dem Thema der Kosmos-Eroberung verknüpft – Installationen kinetischer Künstler, sowohl in diesem Schwimmbad in Moskau als auch entlang der St. Petersburger Newa, sollten dies verdeutlichen.

Wenn eine Gesellschaft mit all ihren ästhetisch-kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Werten am Abgrund steht, gewinnt Spiritualität an neuer Stärke. Aus dem gesprengten Kerker des Glaubens an die Zukunft des Kommunismus traten nach dem Ende der Sowjetunion plötzlich religiöse Dogmen als Träger einer neuen Zuversicht und schufen eine Arche, in der auch Religionsfremde ihren Platz fanden. Während die von Lenin favorisierte monumentale Propaganda, die die kommunistische Ideologie in Stein gemeißelt hatte, abgebaut wurde, schossen um die Jahrtausendwende in Russland viele Kirchen in die Höhe, um den Menschen Halt zu geben und ein Stück Vergangenheit als neue Zukunft zu preisen. Seit 2000 steht auf dem riesigen Taufbecken im Zentrum der russischen Hauptstadt nun auch die erneuerte Christ-Erlöser-Kathedrale wieder. Nach der aktuellen Stellungnahme des Patriarchen zur Kunst lassen die Feierlichkeiten zum Hundertjährigen der Oktoberrevolution nichts weiter als Kitsch erwarten.

Etwas anders ist das Bild hierzulande. Das Berliner Hebbel am Ufer etwa widmet sich ab 12. Januar in der Reihe 100 Jahre Gegenwart dem feministischen Erbe der Revolution, ausgehend von den Schriften von Alexandra Kollontai. Und während das Deutsche Historische Museum noch an der Großausstellung 1917. Revolution. Russland und Europa arbeitet, die im Oktober eröffnet werden soll, läuft in der benachbarten Galerie Contemporary Fine Arts die Ausstellung Café Pittoresque. Der Titel ist Programm, er bezieht sich auf das real existierende und kurz vor der Oktoberrevolution eröffnete Café in Moskau, das von Avantgardekünstlern gestaltet wurde. Der Maler Georgi Jakulow zeichnete für die Wände verantwortlich, Alexander Rodtschenko lieferte Entwürfe für die Beleuchtung. Hier trafen sich die Stars der Revolution wie die Dichter Alexei Krutschonych, Wladimir Majakowski und der Suprematist Kasimir Malewitsch, um ihre neuesten Ideen den Freunden und den Unbekannten vorzustellen.

Das Programm des Moskauer Cafés haben die Kuratoren der Berliner Ausstellung, Nicole Hackert und Wilhelm Schürmann, als Ausgangspunkt genommen, sie bringen die sowjetische Revolutionskunst mit den Arbeiten zeitgenössischer deutscher Künstler zusammen. Zu sehen sind sowohl Alexander Rodtschenkos Fotografien, El Lissitzkys Collagen, Michail Larionows Gemälde als auch Arbeiten von Georg Baselitz, Albert Oehlen und Georg Herold. Die gelungene Komposition wird vor allem von Agitprop-Plakaten getragen, den sogenannten Rosta-Fenstern, die leicht vervielfältigt werden konnten, um die Stadt mit Revolutionärem zu bebildern. Nun korrespondieren sie in der Schau mit Werken zeitgenössischer deutscher Künstler, die offensichtlich von der Ästhetik der russischen Avantgarde beeinflusst worden sind und dies formal auch zum Ausdruck bringen – mal in der Auseinandersetzung mit dem Proletarischen, mal mit den Künstlern selbst.

Transposition des Erhabenen

Auf einem der Rosta-Fenster von Wladimir Majakowski ist der rumorende Arbeitervulkan dargestellt, der aus dem „Käfig der herrschenden Weltordnung ausbricht“, den „gehärteten Aufstand an sich bindet“ und mit seiner Lava über „die ausbeutende Ära“ hinwegfließt. Diese vulkanische Allegorie der Größe und des Aufstands ging nicht nur auf die kantsche Deutung des Erhabenen zurück, nach der solche Naturgewalten im wahrnehmbaren Subjekt erhabene Erkenntnis hervorriefen, sondern in den ersten Revolutionsjahren auch auf einen anderen deutschen Rebellen. „Wie ein ungeheurer Vulkan erscheint uns Europa“, schrieb der 36-jährige Richard Wagner im Jahr 1849, und er setzte, unmittelbar nach dem Dresdner Maiaufstand, seinen Vergleich der Revolution mit einem Naturschauspiel fort: Dessen „übernatürliche Kraft scheint unsern Weltteil erfassen, aus dem alten Geleise herausheben und in eine neue Bahn schleudern zu wollen“.

Ist das Bildnis des ausgebrochenen Vulkans unter negativen Vorzeichen heute nicht aktueller denn je? Intellektuelle wie Jean-François Lyotard oder Theodor W. Adorno haben von der Transposition des Erhabenen in die Sphäre des Politischen gewarnt, weil daraus nur Terror und Faschismus resultierten. Doch 100 Jahre nach der Oktoberrevolution erleben wir, wie Putin und Trump sich einander in ihren politischen Anschauungen nähern. Die daraus folgende autoritäre Weltordnung gleicht einem Naturschauspiel, vor dem alle, wie vor dem ausbrechenden Vulkan, in eine Starre verfallen und zusehen, wie gelenkte Demokratie, religiöse Spiritualität, nationalistische Wirtschaftspolitik und wankelmütiger Finanzmarkt sich die Hände reichen und um den feuerspeienden Berg tanzen.

Info

Café Pittoresque CFA Berlin, bis 4. März

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