Es war die letzte große Debatte, die der vor einem Jahr verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher für das Feuilleton seiner Zeitung organisierte. Und es ging – wie bei Schirrmacher nicht anders zu erwarten – um alles oder nichts: Kann die menschliche Zivilisation im Konkurrenzkampf mit immer leistungsfähigeren Maschinen überleben? Wie sollen wir unsere Freiheit angesichts der totalen Überwachung durch Geheimdienste und Konzerne verteidigen? Und welcher Rest an Privatsphäre lässt sich in einer Welt der ständigen Messungen, Vergleiche und Verhaltenskontrollen überhaupt bewahren?
Auf der einen Seite des heroischen „Freiheitskampfes“: die NSA im Bündnis mit Google, also jener „militärisch-informationelle Komplex“ aus „Big Data“ und „Big Government“, der sich vorgenommen hat, die Welt bis in den hintersten Winkel auszuforschen und zu beherrschen. Auf der anderen Seite: eine fragile, noch im Entstehen begriffene Allianz europäischer Bürger und Politiker, die es erstmals wagt, dem heraufziehenden „technologischen Totalitarismus“ die Stirn zu bieten.
David gegen Goliath – das war eine Erzählung ganz nach Schirrmachers Geschmack. Denn als Blattmacher verstand er es meisterhaft, diese Erzählung als Kampf des Jahrhunderts zu inszenieren – mit riesigen knallroten Überschriften und halsbrecherisch steilen Thesen. Ja, er scheute sich nicht, noch die einschläferndsten EU-Bürokraten (Neelie Kroes, Joaquín Almunia, Guy Verhofstadt) als Volkshelden des digitalen Widerstands darzustellen, er verkleidete gemäßigte Sozialdemokraten (Martin Schulz, Sigmar Gabriel) als revolutionäre Avantgardisten und ließ die Apologeten des Springer-Konzerns gleich in drei Beiträgen (Mathias Döpfner, Robert Maier, Francisco Balsemão) als linksradikale Streetfighter gegen Googles Allmachtsanspruch antreten.
Weder Ochs noch Esel
Vielleicht muss man ein so dröges Thema wie „Technikfolgenabschätzung“ – vor allem wenn es sich mit dem noch drögeren Thema „EU“ verknüpft – derart zugespitzt und dramatisierend präsentieren, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen. Denn wichtig ist das Thema, das derzeit heimlich oder offen in den EU-Gremien verhandelt wird, allemal: Soll man der digitalen Revolution ihren freien Lauf lassen, weil weder Ochs noch Esel sie aufhalten können und staatliche Regulierungen die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft Europas schwächen würden, wie John Kornblum, der ehemalige US-Botschafter in Berlin, und Eric Schmidt, der Verwaltungsratschef von Google, in leicht durchschaubarer Fürsorge meinen? Oder soll die Umwälzung, die uns der „digitale Kapitalismus“ beschert, durch eine vorausschauende und nachjustierende Politik „gezähmt“ werden, auf dass die Umwälzung „sozial verträglich“ und „grundrechtskonform“ geschehe?
Jaaaa doch! Macht endlich!! möchte man immerfort rufen, wenn diese Berufspolitiker, Schriftsteller und Journalisten mit gewaltigem Sprechblasen-Getöse offene Türen einrennen. Wer wäre nicht für ein „freies Netz“, für die „Verteidigung der persönlichen Freiheit“ oder für eine Bewegung, „die die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde ins Zentrum ihrer Überlegungen“ rückt? Wer wollte „die Autonomie des Individuums“ ernsthaft abschaffen oder der „Verdinglichung des Menschen“ das Wort reden? Ich weiß nicht, wie Frank Schirrmacher, wenn er das Ende seiner Feuilleton-Debatte noch erlebt hätte, hinter vorgehaltener Hand über das Ergebnis, das jetzt als blutrotes Suhrkamp-Bändchen vorliegt, geurteilt hätte. Vielleicht wäre er stolz gewesen, die Spitzen der europäischen Politik mit einem Riesenthema bekannt gemacht zu haben, an dessen Vermittlung sich die „Netzgemeinde“ jahrelang die Zähne ausgebissen hat.
Vielleicht hätte sich der große Anreger Schirrmacher aber auch über seinen schwejkhaften Versuch amüsiert, ausgerechnet in der konservativen FAZ eine Neuauflage der sozialliberalen Koalition herbeischreiben zu wollen, was wegen der Verstocktheit der liberalen Autoren (Christian Lindner, Gerhart Baum, Guy Verhofstadt) leider nicht verfing.
Vielleicht hätte er sich gewundert, wie groß die Töne sind, die Berufspolitiker in solchen Debattenbeiträgen spucken („Big Data beherrschen!“, „Ich diszipliniere Google“, „Warum wir jetzt kämpfen müssen“, „Die Politik eines neuen Betriebssystems“), und wie klein die Brötchen ausfallen, die sie in ihrer parlamentarischen Praxis backen. Man kann schließlich nicht großmäulig die Verschmelzung von Big Data (Google) und Big Government (NSA) beklagen und eine „gefährliche Verbindung von neoliberaler und autoritärer Ideologie“ heraufziehen sehen, die das Potential einer Terrorherrschaft in sich trägt, wenn man gleichzeitig die Vorratsdatenspeicherung gegen alle Bedenken durchs Parlament winkt. Man kann nicht wehklagen, dass wir „zu digital hypnotisierten Mündeln der Datenherrschaft“ werden, aber die europäische Datenschutz-Grundverordnung so lange verschleppen, bis sie von den Lobbyisten der US-Industrie und der City of London gänzlich verwässert ist. Man kann nicht Google durch eine Kartellklage zerschlagen wollen (um den heimischen Presseverlagen zu helfen), aber der NSA-Schnüffelei so gut wie nichts entgegensetzen.
Alarmistische Neigung
Und so krankt die Technologie-Debatte – trotz allen Geredes über einen drohenden digitalen Totalitarismus – auch an inneren Widersprüchen. In ihrer Angst, das Thema „Macht und Ohnmacht der Politik“ an konkreten Beispielen diskutieren zu müssen, ähnelt die Debatte wohl mehr, als ihr lieb ist, jener naiven Technikdiskussion der frühen 60er Jahre, als der konservative Soziologe Helmut Schelsky in der Zeitschrift Atomzeitalter den „technischen Staat“ als postmoderne Herrschaftsform beschrieb. Und in der alarmistischen Neigung, stets das Schlimmste zu befürchten, ähnelt die Debatte über den Kraken Google und das Monster NSA auch ein wenig der pessimistischen Technikkritik des Philosophen Günther Anders, der in seinem Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen die wachsende Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten der Maschinen und dem Können der Menschen diagnostizierte und die Technik (statt den Menschen) zum neuen Subjekt der Geschichte ausrief.
Weit weniger als behauptet ähnelt die Debatte dagegen der Technikkritik von Jürgen Habermas. Denn dieser betrachtete Technik und Wissenschaft stets im Rahmen einer Gesellschaftsanalyse, mit deren Hilfe er der „Ideologie der Technik“ auf die Schliche kam, insbesondere der Verschleierung der Tatsache, dass Technik und Herrschaft, Rationalität und Unterdrückung im Kapitalismus „eigentümlich verschmelzen“. Diesen kritischen Blickwinkel nehmen am ehesten die politikfernen Autoren Evgeny Morozov, Wolfgang Streeck, Ranga Yogeshwar und Shoshana Zuboff ein, und – auf seine Art – sogar Mathias Döpfner. Döpfner schreibt über den insgeheim vergötterten Angst-Gegner Google: „Wir führen keine Debatte über Technik ... Wir führen eine politische Debatte.“ Denn Google sei heute „die den Weltmarkt beherrschende Großbank der Verhaltenswährung. Keiner kapitalisiert sein Wissen über uns so erfolgreich wie Google“. Der Konzern sitze „auf dem gesamten gegenwärtigen Datenschatz der Menschheit wie der Riese Fafner im Ring des Nibelungen“. Und mit bangem Blick nach Brüssel fragt der Springer-Chef: Wird die Europapolitik vor der Macht dieses „Überstaats“ einknicken oder aufwachen?
Auch der Soziologe Wolfgang Streeck glaubt nicht so recht an die neuen Kampfesschwüre der Politiker. „,Haltet den Dieb!‘-Aufrufe wie die von Martin Schulz“, schreibt er desillusioniert, „mögen echter Verzweiflung darüber entspringen, dass die Politik ihr demokratisches Geschäft selber hat verkommen lassen. Wahrscheinlich aber probiert der Polit-Profi nur ein neues Thema aus, das der politischen Klasse für ein paar Monate verlorenes Vertrauen zurückbringen soll. Dazu allerdings müsste sie vergessen machen, dass sie selber es war, die die Datenaustauschvereinbarungen mit den Vereinigten Staaten ausgehandelt und ratifiziert hat, die alle Nichtbesitzer von Diplomatenpässen dazu zwingen, der amerikanischen Regierung für jeden Transatlantikflug ihre Lebens- und Reisegeschichte mitsamt Biodaten zu ewiger Aufbewahrung zu übergeben.“
Hoffen wir, dass die von Frank Schirrmacher angestoßene Debatte weitergehen wird und nicht mit ihm zusammen in Potsdam begraben wurde – und wenn nicht in der FAZ, dann eben anderswo.
Info
Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte Frank Schirrmacher (Hg.), Suhrkamp 2015, 283 S., 15 €
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