Möglicherweise werden wir uns im Rückblick auf das Jahr 2012 kopfschüttelnd fragen, warum wir uns volle drei Monate mit einer Lappalie beschäftigt haben: mit der Belanglosigkeit, wer in diesem Land verdienten Bürgern einen schwarz-rot-goldenen Blechorden umhängen darf. Hätten die Medien die Endlos-Debatte um Christian Wulffs Verfehlungen nicht so inbrünstig und verbissen geführt, hätten wir uns vielleicht ernsthaft mit jener Billion Euro auseinandersetzen müssen, die von der Europäischen Zentralbank im Zuge einer gigantischen Vorteilsgewährung an eine Handvoll „befreundeter“ Privatbanken ausgeschüttet wurde, um ihnen leistungslose Zinsgewinne in zweistelliger Milliardenhöhe zu ermöglichen.
Doch die monströse Begünstigung im Amt löste keinen moralischen Skandal aus. Die Empörung konzentrierte sich auf den Schnäppchenjäger Wulff, der die Würde seines Amtes beschmutzt hatte. Das wirft für die Anhänger der Verhältnismäßigkeit die Frage auf, warum das Handeln Wulffs skandalös war, das Handeln der EZB aber nicht. Wer um Himmels Willen entscheidet darüber, wann ein Missstand „skandalisiert“ oder besser toleriert wird?
Der konservative Mainzer Medienforscher Hans Mathias Kepplinger hat darüber ein bitterböses Buch geschrieben. Die Mechanismen der Skandalisierung ist zwar nicht mehr ganz neu, die Erstausgabe stammt aus dem Jahr 2001, aber die viel Staub aufwirbelnden Fälle Sarrazin, zu Guttenberg und Kachelmann haben den Autor bewegt, eine Aktualisierung seiner „empirischen Skandaltheorie“ vorzulegen. Kepplingers Pech: Das Buch ging in Druck, als die Affäre Wulff gerade anfing.
Noelle-Neumanns Schüler
Kepplinger ist ein ausgesprochener Miesepeter, ein Skeptiker, der überall Manipulation, Böswilligkeit und Egoismus wittert. Das heißt: Er ist ungefähr so wie wir Journalisten – jedenfalls wie die meisten von uns. Als Schüler der legendären Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann befasste er sich ein Leben lang mit jenen zwielichtigen Gestalten, die dem Publikum tagtäglich ihre Meinung aufzwingen: den vorlauten, selbstgerechten, im Zweifel mehrheitlich linksliberalen Journalisten. Mit zunehmender Erbitterung hat Kepplinger jene zynischen Mechanismen herausdestilliert, die es meinungsbildenden Medien erlauben, einen Missstand – auch wenn er bloß auf Vermutungen oder Gerüchten basiert – erfolgreich zum Gegenstand öffentlicher Empörung zu machen.
Kepplinger steht dabei stramm auf Seiten der „Opfer“ (also der enthüllten „Täter“), und dieses Mitleid nimmt zunächst für ihn ein. Ob Enthüllungen nun Spitzenpolitiker, Wirtschaftsbosse oder Schriftsteller treffen – die allzeit skandal-bereiten Medien hätten, schon aus Eigennutz, keinerlei Skrupel, ihre „Opfer“ mit unwahren oder maßlos übertriebenen Behauptungen zu überziehen, ja, die sich hilflos Rechtfertigenden auch noch zu verhöhnen. Die in die Enge Getriebenen könnten sich gegen die Vorwürfe kaum wehren, weil das von den Gerichten extensiv ausgelegte Presserecht und das von den Medien aufgewiegelte Publikum kein Korrektiv mehr bildeten.
Verhängnisvoll sei insbesondere der Gruppendruck innerhalb der Journalistenzunft. Werde ein Vergehen publik – etwa durch die Verabredung einiger „Wortführer“ in den Leitmedien wie Spiegel, FAZ, oder Bild – führe die intensive Dramatisierung des Geschehens rasch zu einer Gruppennorm: einer „schematischen“ einseitigen Sichtweise des skandalisierten Missstands. „Im Skandal“, sagt Kepplinger, „geht es nicht vorrangig um die Richtigkeit der Behauptungen, sondern um die dadurch gesteuerten Emotionen.“ Und weil in der vernetzten Journaille große Angst vor abweichender Meinung herrsche und in der Skandalberichterstattung sowieso einer vom anderen abschreibe, schließe sich die Journalistenherde bald bereitwillig den Leithammeln an.
Die wenigen „Nonkonformisten“, die es wagten, gegen die festgelegte Lesart des Skandals zu schreiben, würden ignoriert, als Außenseiter gebrandmarkt oder lächerlich gemacht. „In diesem Sinne“, schreibt Kepplinger allen Ernstes, „weisen alle Skandale totalitäre Züge auf: Sie zielen auf die Gleichschaltung aller, weil die öffentliche Abweichung einiger den Machtanspruch der Skandalisierer und ihrer Anhänger infrage stellen würde. Die großen Skandale kann man deshalb auch als demokratische Variante von Schauprozessen betrachten.“ Das ist starker Tobak. Bevor man Kepplingers Skandaltheorie aber wegen starker Voreingenommenheit oder maßloser Übertreibung in die Ecke pfeffert, sollte man die Verzweiflung dieses akademischen Wutbürgers über den Niedergang der einstmals zurückhaltenden Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen.
Denn auf den ersten Blick haben die Fälle Guttenberg und Wulff durchaus Ähnlichkeiten mit „Schauprozessen“: Da sind die selbstherrlichen „Staatsanwälte“ in den Leitmedien, die sich als Ankläger, Richter, Henker und Moraltheologen in einem gerieren; da sind die peinlichen, kaum Mitleid erregenden Selbstdenunziationen von Angeklagten, die, um Gnade winselnd, ihr Schuldbekenntnis zerknirscht in die Kamera sprechen; und schließlich die aufgeputschte „Meute“ von „Hobby-Journalisten“, die im Gerichtssaal namens Internet den Kopf der Delinquenten fordert.
Die Skandalisierten, so Kepplinger, hätten nur eine einzige Chance, dem Vernichtungs-Pranger zu entgehen: Sie müssten, wenn Thema und Umstände es erlaubten, eine Gegenmacht mobilisieren. Sie müssten die vierte Gewalt spalten und den Skandal in einen „inner-publizistischen Konflikt“ verwandeln. Das sei Thilo Sarrazin, Joschka Fischer und Jörg Kachelmann gelungen. Der Fall Kachelmann habe die Leitmedien von Anfang an in zwei mitprozessierende Lager gespalten (hier Focus, Bild und Bunte, dort Spiegel und Zeit), während es Sarrazin und Fischer mit der Schützenhilfe gewisser Blätter und „befreundeter“ Journalisten schafften, von der Skandalisierung ihrer Person abzulenken und einen grandiosen Themenwechsel herbeizuführen. Fischer sei der öffentlichen Verdammnis – er hatte in seiner Spontizeit einen Polizisten verprügelt – vor allem dadurch entkommen, dass er die lauteren Motive der Studentenbewegung für sich ins Feld führen konnte. Er hatte die Generation der etablierten 68er (im Spiegel wie in der Politik) auf seiner Seite. Sarrazin wiederum war es gelungen, gemeinsam mit der Bild-Zeitung von den Thesen des Buches abzulenken und eine Debatte über das hohe Gut der Meinungsfreiheit zu beginnen („wird man ja wohl noch sagen dürfen..!“).
Im Kern richtet sich Kepplingers Skandaltheorie aber gar nicht gegen die Medien. Im Kern kämpft Kepplinger gegen eine konkurrierende ‚linke‘ Skandaltheorie: Diese von ihm heftig kritisierte „funktionalistische Skandaltheorie“ ist nämlich das glatte Gegenteil seiner pessimistischen Weltsicht. In der öffentlichen Enthüllung und Entrüstung sieht sie nicht den verlogenen, niederträchtigen Versuch, gewisse Leute mit miesen journalistischen Methoden aus dem Weg zu räumen, sondern – optimistisch und auch ein wenig blauäugig – den Jungbrunnen der Demokratie. Der 2007 verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich („Nichts ist den guten Sitten zuträglicher als der Skandal“) war ihr eloquentester Vertreter: ein freisinniger Liberaler, der die Funktion des Skandals absolut moralinfrei betrachtete und deshalb von der Spiegel-Redaktion als Autor bevorzugt wurde.
Sinnvolle Normverletzungen
Nur der Skandal, so Hondrich, ermögliche es der modernen, verunsicherten, aus vielen Teilöffentlichkeiten bestehenden Gesellschaft, durch Aufarbeitung einzelner Normverletzungen Grundwerte zu redefinieren, sprich: sich zu reformieren oder zu restaurieren. Der Skandal sei die Hefe des demokratischen Prozesses, notwendig für das Lernen einer dynamischen Gesellschaft. In intakten „Skandalkulturen“ werde unablässig neu vermessen, welche Befindlichkeiten eine Gesellschaft um- oder antreiben. Der Skandal verhelfe zur Selbstreinigung und Selbstkorrektur, aber auch – in Umbruchzeiten – zu einem beschleunigten Normenwechsel. Insofern wäre die ungewöhnliche Breite der Debatte um Christian Wulff und Joachim Gauck dem extremen Bedürfnis der Gesellschaft nach Neuvermessung ihrer Werte geschuldet.
Beide Skandaltheorien haben ihre Verdienste. Während die funktionalistische den demokratischen Nutzen der Skandale hervorhebt, verdammt die empirische die Kollateralschäden, die das Vertrauen in die Demokratie untergraben. Beide argumentieren dabei systemimmanent und sind damit von begrenzter Reichweite. Sie können nicht erklären, warum die verschleuderte EZB-Billion kein moralisches Beben auslöste, während das Bobby-Car von Wulff für helle Empörung sorgte.
P.S. Skandalös an Kepplingers Buch ist übrigens, dass er seinen Gegenspieler Karl Otto Hondrich mit keinem Wort erwähnt.
Die Mechanismen der SkandalisierungHans Mathias Kepplinger Olzog 2012, 224 S., 26,90
Enthüllung und Entrüstung, Eine Phänomenologie des politischen Skandals
Karl Otte Hondrich Suhrkamp 2002, 166 S., 9
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