ERWISCHT! - Sarrazin untertreibt! Offener Brief

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

ERWISCHT! – Sarrazin untertreibt!

Offener Brief eines gemeinwohlorientierten Unproduktiven


Sehr geehrter Herr Dr. rer. pol. Thilo Sarrazin,


für mich waren Sie nie ein „Skurrilsenator“ (Sontheimer) oder „Sprücheklopfer“ - denn Sie sprechen aus, was Ihre AmtskollegInnen denken, aber nicht zu sagen wagen. Sie sind sozusagen der bundesdeutsche System-Narr, und ich achte Narren hoch, weil man früher wie heute nur als Narr die Wahrheit sagen darf.

Und zum Spiel gehört, dass die „rinken und lechten“ (Jandl) SystemträgerInnen jetzt über Sie herfallen – verflucht seien diese HeuchlerInnen!


Und nun das! Ja, Herr Dr. rer. pol. Sarrazin, ich bin enttäuscht über Ihr letztes Werk – schwer enttäuscht! 15 großformatige Spalten konnten Sie im „Lettre International“ füllen und sagten trotzdem nur die halbe Wahrheit, und halbe Wahrheiten sind oft schlimmer als die Unwahrheit.


Ich weiß: Letztlich ging es Ihnen um die Rettung der Berliner, ja der deutschen Volkswirtschaft. Ihre Diagnose: Zu viele unproduktive Menschen! Zu wenige Leistungsträger! Ihre Lösung: Die Nichtleistungsträger sollen gehen und woanders nichts leisten!


Aber nein - Sie sind kein Rassist; Sie lehnen Türken nicht ab, weil sie Türken sind, sondern weil sie zu wenige Werte schaffen; Ihnen sind Asiaten und Osteuropäer nur deshalb sympathischer, weil sie leistungsmotivierter sind – ich habe das verstanden. Und dennoch:

Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit! Sie haben zu wenig recherchiert! Sie kennen den Forschungsstand nicht! Sie haben geschlampt, Herr Dr. Sarrazin!


Wie wäre es mit einer kleinen Nachhilfe:

Als Finanzsenator a.D. müssten Sie Generationenbilanzen kennen; die gibt es seit langem; sie müssten auf Ihrem Finanzsenatorentisch gelegen haben? Erinnern Sie sich? Haben Sie sie jemals gelesen? Scheinbar nicht! Wenn ja, umso schlimmer. Was steht da drin?


Ich sage Ihnen jetzt, was in den Schweizer Bilanzen steht. Warum? Weil die Schweiz seine LeistungsträgerInnen noch schont und belohnt; ein stabiler kapitalistischer Vorzeigestaat eben! Was dort rauskommt, gilt für die BRD zweimal und ist für Berlin dreimal-dramatisch wahr. Einverstanden?


Vorab: Es geht um NORMALE Durchschnittsbürgerinnen und -bürger, die geboren und erzogen werden, die durchschnittlich krank sind und ausgebildet in den Produktionsprozess eingegliedert werden. Es geht also nicht um Randständige und nicht um ImmigrantInnen.


Die Forschungsfrage lautet: Was kosten heutgeborene durchschnittliche Kinder den Staat, und was erwirtschaften diese Kinder ihr langes Leben lang?

Kosten sind alle Kosten der Geburt, Erziehung und Ausbildung, anteilige Kosten der Infrastruktur, der Verwaltung und natürlich Krankheitskosten und Renten.

Auf der Einnahmeseite stehen zu erwartende Steuern, Sozialabgaben, Krankenversicherungsprämien und vor allem der erzeugte Mehrwert, sprich die Gewinne für die Unternehmen, in denen sie arbeiten werden.


Was unter‘m Strich rauskommt, können Sie in den Strukturberichterstattungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco) nachlesen; ich zitiere:


„Die ‘Produktion‘ eines Kindes kostet die Gesellschaft heute im Durchschnitt netto rund 162.000 Schweizer Franken über dessen ganzen Leben gerechnet!“ (Kurs: 1 sfr = 0,66 Euro). Genauer:

Künftige Durchschnittsmänner bringen lebenslang einen läppischen Pro-Kopf-Nettogewinn von 81.000 sfr; künftige Durchschnittsfrauen hingegen kosten –weil sie weniger Steuern und Abgaben zahlen werden- je 417.000 sfr.

„Finanziell lohnend für die Gemeinschaft“ sind nur Kinder, „die besonders produktive Menschen“ werden, weil sie „wegen des progressiven Steuersystems weit überproportional für die öffentlichen Lasten aufkommen.“


Schlussfolgerung:

„Wenn man Gutverdienenden bessere Anreize geben will, sollte man ihnen nicht zusätzliches Geld hinterherwerfen, sondern man sollte zuerst die bestehenden negativen Anreize abbauen. So könnten Kinderabzüge und Abzüge für Fremdbetreuung erhöht werden. Noch besser wäre es, die Grenzsteuersätze für gut verdienende Eltern zu senken, etwa durch einen Elterntarif oder ein Splitting mit Kindern als Splittingfaktor.“ – Na bitte!


Summa summarum:

Der Königsweg aus der Leistungskrise besteht darin, durch Steuersystemsteuerung zu erschweren, dass DURCHSCHNITTSBÜRGER GEBOREN WERDEN!!! Die strategische Parole muss heißen: NICHTGEBURT VON NORMALBÜRGERN!


DAS ist die GANZE Wahrheit. Nicht ihre falsche HAUT-AB-HALBWAHRHEIT, für die Sie sich auch noch entschuldigen! Entschuldigen Sie sich lieber dafür, nicht die GANZE WAHRHEIT GEKANNT UND GESAGT ZU HABEN!


Guten Tag!

Wolfgang Ratzel

Staatlich anerkannter, nach geltender Ansicht unproduktiver und alimentierter Kostenfaktor; aber tröstlicherweise nachgewiesenermaßen nicht viel teurer (und vielleicht sogar billiger) als die normale Frau und Mann in Produktion und Verwaltung


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden