Es gibt eine tolle Institution, die Wissen und Bildung „für alle“ bereitstellt. Sie dient dem Gemeinwohl, weil sie die Bürger rund um die Uhr für wenig Geld mit relevanten Informationen auf sämtlichen Gebieten versorgt. Diese Institution nennt sich öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Es gibt aber eine noch tollere Institution, die ein ganz ähnliches Ziel verfolgt und eine Schippe Gemeinnützigkeit obendrauf legt. Diese Institution will das Wissen der Welt von allen Zugangsbeschränkungen, Exklusivrechten und Eigentumsvorstellungen „befreien“. Alle sollen teilhaben an den Informations-Schätzen, die in Bibliotheken, Archiven, Behörden und Anstalten vergammeln oder weggesperrt werden, nur damit andere sich das Wissen nicht z
t zunutze machen und weitergeben können. Diese Institution nennt sich Wikimedia-Stiftung. Sie betreibt das kostenlose Internet-Lexikon Wikipedia mit seinen inzwischen 57 Millionen Artikeln.Da lag es natürlich nahe, dass sich das radikalere Unternehmen bei dem gemäßigten meldet und vorschlägt, doch gemeinsam mal etwas Gemeinnütziges zu unternehmen. Gesagt, getan. Seit 2018 treffen sich beide mit wechselnden Gästen aus Bildung, Kultur und Politik an Runden Tischen, um zwanglos über die Befreiung von Inhalten zu plaudern. Wikimedia Deutschland möchte so „die Freigabe wissensrelevanter Teile öffentlich-rechtlicher Rundfunkproduktionen“ erreichen. Damit jede und jeder, von der Schülerin bis zum Weltkonzern, die befreiten Inhalte nutzen und verändern kann.Die geduldige Lobbyarbeit von Wikimedia führte Ende 2019 zu einem ersten Deal. Das ZDF gab einige Video-Clips der Sendung Terra X zur Nachnutzung frei, etwa eine Animation über die letzte Eiszeit oder ein Erklärvideo zur Anatomie der Klitoris. Den Rundfunk-Verantwortlichen bot sich damit die Möglichkeit, wieder an jüngere Zielgruppen anzudocken und das leicht ramponierte Gemeinwohlideal öffentlichkeitswirksam zu renovieren.Geschockt hat die Annäherung allerdings die Kreativen. Insbesondere die Dokumentarfilmbranche. Denn Wikimedia möchte nun auch Dokumentarfilme in die „Verhandlungen“ miteinbeziehen. Autoren und Regisseure fürchten: Die Terra-X-Clips waren nur ein Testballon. Schon bald würden die Wissensbefreier nach der kompletten Film- und Hörfunkproduktion greifen, um sie weltweit verramschen zu können.Das klingt maßlos übertrieben, aber ganz von der Hand zu weisen ist der Vorwurf nicht. Denn Ende Oktober präsentierte die gemeinnützige Wikimedia-Stiftung eine kommerzielle Tochtergesellschaft: Wikimedia Enterprise, registriert in der US-Steueroase Delaware. Die Firma soll der Stiftung, die bislang auf Kleinspenden und sporadische Schenkungen angewiesen ist, stetigen Geldzufluss sichern. Über eine technische Schnittstelle (API) – gehostet bei AWS Amazon – erhalten Kunden wie Google, Apple oder Facebook die Möglichkeit, schneller, aktueller und zuverlässiger große Datenmengen aus Wikimedia-Projekten in ihre werbefinanzierten Dienste einzubinden.Suchmaschinen oder Sprachassistenten wie Siri (Apple) und Alexa (Amazon) nutzten das Wikipedia-Lexikon immer gratis und machten Geld damit. Diese „Großkunden“ sollen jetzt etwas „zurückgeben“. Wobei „zurückgeben“ eine höfliche Umschreibung für eine Lizenzvergütung ist.Noch darf Enterprise höchstens 30 Prozent der Stiftungseinnahmen erwirtschaften, sonst verliert das Projekt die steuerbefreite Gemeinnützigkeit – und vielleicht auch viele Freiwillige, die sich enttäuscht von der Wikipedia-Arbeit zurückziehen könnten. Wird aus der Utopie von der selbstlos arbeitenden Schwarmintelligenz dann ein marktradikaler Vorzeigekonzern? Einer, der sich von anderen dadurch nur noch unterscheidet, dass er kaum Steuern und Löhne zahlt?Die Initiative Urheberrecht, ein Lobbyverein von Kreativen und Verwertern, scheint diese Entwicklung fast herbeizureden. Es wäre aber fatal, die Kinder jetzt mit dem Bade auszuschütten. Sowohl die Wikipedia als auch die Rundfunksender sind großartige Projekte. Sie sind in die Jahre gekommen, aber reformierbar. Denn letztlich wissen sie, dass sie den Urhebern alles verdanken.