Die Sozialdemokraten haben kein schlüssiges Europa-Konzept – außer ihrem Mantra vom notwendigen Zusammenhalt
Montage: der Freitag, Material: Getty Images
Am Tag vor der 150-Jahr-Feier der SPD – also am 22. Mai 2013 – trafen sich die Vertreter von 80 Parteien aus aller Welt im historischen Stadtbad von Leipzig, um eine neue Internationale aus der Taufe zu heben: die „Progressive Allianz“, ein globales Netzwerk linksliberaler Demokraten und gemäßigter Sozialisten. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte die Gründung initiiert, weil er der Meinung war, die Sozialistische Internationale (SI), die sein Vorgänger Willy Brandt 16 Jahre lang geführt hatte, sei vom Pfad der Freiheit abgewichen und dulde mehr und mehr diktatorische Parteien in ihren Reihen. Die neue Allianz sollte das Gewicht der internationalen Sozialdemokratie wieder in Richtung Mitte verschieben.
SI-Präsident Giorgos Papandreou
Papandreou protestierte zwar heftig und warf Gabriel „Rufmord“ und „Spaltung“ vor, aber es nützte nichts. Die Allianz ersetzte das hochemotionale Sozialisten-Symbol der Arbeiterfaust mit der roten Rose durch einen nüchternen grün-blauen Kringel, und ebenso ernüchternd feierte die SPD tags darauf ihr 150-jähriges Bestehen: Sie berief sich lieber auf den Bismarck-freundlichen „Arbeiterverein“ Lassalles als auf die von Bebel und Liebknecht geprägte linke Hälfte der Ur-SPD: die gewerkschaftsnahe, von Marx inspirierte „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (SDAP).Es ist natürlich unfair, Zustand und Absichten der SPD aus dieser Feier abzuleiten. Und genauso unfair wäre es, die heutige SPD und ihren Vorsitzenden Sigmar Gabriel an der SPD Willy Brandts zu messen. Vor 40 Jahren zählte die Partei noch über eine Million Mitglieder, es gab ein intaktes Parteimilieu und eine nennenswerte Zahl von Industriearbeitern. Heute dümpelt die Partei bei 442.000 Mitgliedern, Tendenz weiter sinkend. Viele Ortsvereine werden von den Alterskohorten der 56- bis 75-Jährigen am Leben erhalten. Der linke Flügel hat die Partei fast komplett verlassen. In Nordrhein-Westfalen, dem Herzland der SPD, gab es 1990 dreimal so viele Genossen wie heute. Übriggeblieben ist, zugespitzt formuliert, ein erweiterter Seeheimer Kreis. Nirgends gibt es Sozialdemokraten, die – wie Bernie Sanders in den USA – über den Tellerrand der Partei hinausweisen und nachwachsende Generationen begeistern. Die Umfrage-Institute melden ein stabiles Tief von 20 bis 22 Prozent.Solche Schwarzmalerei kontert die SPD gern mit ihren Erfolgen. In 13 von 16 Bundesländern sei sie an der Regierung beteiligt, in neun stelle sie sogar die Ministerpräsidenten. Im Februar werde ein Sozialdemokrat zum Staatsoberhaupt gewählt. Umfrageergebnisse, so sagt es SPD-Vize Olaf Scholz, seien eine flüchtige Ware. Sie könnten sich mit der Bekanntgabe eines umwerfenden Kanzlerkandidaten schnell um zehn Prozentpunkte nach oben bewegen. Sigmar Gabriel oder Martin Schulz? Träum weiter, Olaf!Zusammenhalt als LeitmotivEs wird den Genossen nicht helfen, den Genossen Trend zu ignorieren: Bei den bevorstehenden Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wird die SPD herbe Verluste einfahren und vermutlich in beiden Bundesländern eine Große Koalition eingehen müssen – wenn sie nicht gar von Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb-Grün abgelöst wird. Für Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün scheint es nicht zu reichen, es sei denn, der Schock über einen Wahlerfolg von Geert Wilders in den Niederlanden und Marine Le Pen in Frankreich würde die Wähler im letzten Moment dazu bewegen, ihre Enttäuschung über Rot-Grün hintanzustellen und die Amtsinhaber zu bestätigen. Die Wahlkämpfe in Deutschland werden also wie nie zuvor von bangen Blicken auf Europa begleitet. Da kann es nicht verkehrt sein, einen Europäer wie Martin Schulz an die Spitze der NRW-Landesliste zur Bundestagswahl zu stellen und ihm Raum für einen europäisch inspirierten Wahlkampf zu geben.Das Leitmotiv von Sigmar Gabriel und seiner Partei wird deshalb „Zusammenhalt“ sein. Die SPD kann das Thema emotional besetzen, ohne inhaltlich allzu präzise werden zu müssen. Für eine Sowohl-als-auch-Partei ist das ideal. Denn Zusammenhalt in schwierigen Zeiten, das versteht jede und jeder, und alle können es auf ihre persönliche Situation beziehen: in der Familie, im Kiez, im Betrieb, in der Kirche, im Land, in Europa.Wer auseinanderdriftende Teile zusammenhalten will, muss freilich aus der Mitte heraus agieren. Denn nur von dort, davon ist die SPD-Führung überzeugt, lässt sich für Vernunft und Ausgleich sinnvoll werben. Das heißt aber auch, dass die SPD den von manchen Linken erhofften Lagerwahlkampf ablehnt und erneut auf einen staatstragenden, die Kanzlerin respektierenden Mitte-Wahlkampf setzt. Die verantwortungsbewusste SPD, so die zentrale Botschaft, stemmt sich gegen die Fliehkräfte der Gesellschaft, sie stemmt sich gegen Putin und Trump, gegen Populismus und Finanzkapitalismus, gegen Le Pen und Wilders, Kaczyński und Orbán, Petry und Wagenknecht. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, langjähriges SPD-Mitglied und begehrter Berater des Kanzleramts, sieht in seiner 2015 erschienenen Studie „Macht in der Mitte“ denn auch auf absehbare Zeit keine Alternative zu einer Fortsetzung der Großen Koalition. Nur sie verkörpere jenes notwendige deutsche Kraftzentrum, das Europa durch die gegenwärtigen Krisen steuern kann.Placeholder image-1Den beiden Kanzleraspiranten Martin Schulz und Sigmar Gabriel wird es recht sein. Mit ihrer ähnlichen politischen Biografie stehen sie für das Zusammenhalten. Also werden sie als Team antreten, auch wenn derzeit alles darauf hindeutet, dass Sigmar Gabriel die Kanzlerkandidatur für sich beansprucht. In einem Kernschattenkabinett werden Gabriel und Schulz (und vielleicht Hannelore Kraft) gemeinsam eine herausragende Position einnehmen. Manuela Schwesig und Malu Dreyer werden für den familiären und gesellschaftlichen Zusammenhalt werben, Olaf Scholz für den Zusammenhalt in den Städten, Heiko Maas für den Zusammenhalt von Rechtsstaat und innerer Sicherheit, Andrea Nahles für den Zusammenhalt von Arbeit und Kapital und die ostdeutschen SPD-Ministerpräsidenten für den Zusammenhalt von neuen und alten Bundesländern. Über diesem Kernschattenkabinett werden – mit einem Spot hell erleuchtet – Gabriel und Schulz Rücken an Rücken stehen und die Fliehkräfte um sie herum mit eisernem Willen zu bändigen versuchen.Programm statt PersonenkultEs wird also keinen Kandidaten-, sondern „einen programmatischen Wahlkampf“ (Gabriel) geben. Dessen Eckpunkte lauten: Abschied von der Austeritätspolitik in Europa, Sicherung eines starken Staates gegen die Feinde der Demokratie, Kulturkampf für Weltoffenheit und westliche Werte sowie Rückeroberung der sozialen Demokratie. Um dies glaubwürdig zu vermitteln und die eigenen Wahlkämpfer gegen die Einschläferungsstrategie der CDU zu impfen, wird die SPD die Populismusgefahr dramatisieren – und der AfD damit auf den Leim gehen. Sie wird sich auf deren Provokations-Themen Islam, kulturelle Überfremdung, Kriminalität und Terror einlassen und muss, wie die gesamte Linke, unablässig auf die lustvoll zelebrierte Verächtlichmachung des „rot-rot-grün versifften Gutmenschentums“ reagieren.Die Ankündigung eines programmatischen Wahlkampfs demonstriert im Übrigen, dass die Aufstellung des Kanzlerkandidaten zwar für die personalfixierten Medien ein liebgewonnenes Ritual darstellt, für die Partei aber in ihrer jetzigen Situation nur untergeordnete Bedeutung hat. Da seit langem klar ist, dass es zur Kanzlerschaft nicht reichen wird – weder in einer Neuauflage der Großen Koalition noch in einer Allianz von Rot-Rot-Grün oder Rot-Gelb-Grün –, kann die SPD bestenfalls versuchen, ein Stück stärker zu werden, damit es 2021 dann endlich klappt. Schulz wäre für diese Aufgabe des Stärkerwerdens der geeignetere Kandidat, denn er wird von den Medien begünstigt, weil er innenpolitisch ein unbeschriebenes Blatt ist, während Gabriel aufgrund seiner angeblichen Unstetheit von den Medien stereotyp abgewatscht wird. Schulz hat außerdem – was in Zeiten von Twitter-Präsidenten ein Kriterium sein könnte – mit Abstand die meisten Follower aller Sozialdemokraten: 298.000. Gabriel bringt es auf 118.000, es folgen Heiko Maas (110.000), Manuela Schwesig (82.600), Hannelore Kraft (52.600) und Olaf Scholz (23.400).Ein eigenes Thema jenseits der AfDWas aber ist ein programmatischer Wahlkampf? „Zusammenhalt“ ist ja kein Inhalt, sondern ein Wert. Dieser müsste sich dann in konkreten Vorschlägen wiederfinden. Martin Schulz etwa steht für das Oberthema Europa. Das Problem ist nur, dass die Sozialdemokraten kein schlüssiges Konzept für Europa haben – außer ihrem Mantra vom notwendigen Zusammenhalt.Was sozialdemokratische Think-Tanks bisher an Konzepten zur Lösung der Euro-Krise vorgelegt haben, ist alles andere als stringent: So schlägt der SPD-Machiavellist Herfried Münkler vor, Deutschland solle seine Macht- und Zuchtmeisterposition als wohlwollender Hegemon Europas konsequent wahrnehmen und aufhören, verschämt aus der zweiten Reihe zu führen. Das klingt nach Vormundschaft, nicht nach Solidarität. Eine rot-rot-grüne Arbeitsgruppe um Gesine Schwan, Axel Troost und Frank Bsirske plädiert dagegen für eine Begrenzung nationaler Souveränität. Eine europäische Wirtschaftsregierung solle das volle Durchgriffsrecht auf die nationalen Haushalte erhalten, der EU-Haushalt solle zu Lasten der nationalen Etats vergrößert werden, zwischen Defizit- und Überschussländern müsse es einen Ausgleich geben, ein Investitionsprogramm mit einem Volumen von 2,6 Billionen Euro solle für die nötige Modernisierung sorgen und Eurobonds würden die Staatsfinanzierung sichern. Doch niemand weiß, wie das bei den Wählern ankommt. Der Sozialdemokrat und Politologe Fritz Scharpf und der wegen Thilo Sarrazin (SPD) aus der SPD ausgetretene Soziologe Wolfgang Streeck wiederum möchten erreichen, dass wirtschaftlich strauchelnde EU-Mitglieder aus dem Euro austreten und zu einem System mit festen Wechselkursen zurückkehren können. Und SPD-Sympathisant Jürgen Habermas empfiehlt das von Wolfgang Schäuble einst verfochtene Konzept eines „Kerneuropa“. Konsistent wirkt das alles nicht, eher hilflos.Ein eigenes Wahlkampfthema zu setzen und es sich nicht von Union oder AfD aufdrängen zu lassen, wäre aber die Voraussetzung, um eine echte Alternative anbieten zu können. Es müsste etwas sein, das nur die gesellschaftliche Linke kompetent bearbeiten kann: das Thema Zukunft der Arbeit. Denn Globalisierung und Digitalisierung verursachen ja gerade jene Veränderungen, die die linken Parteien im Bundestagswahlkampf lauthals beklagen werden: die zunehmende Spaltung der Gesellschaft, das Auseinanderdriften der Einkommen, die Ungleichverteilung der Lebenschancen, die Benachteiligung der Frauen, die Abwertung der Demokratie und die Vertreibung von Menschen aus ihren Heimatregionen.Hier an die Wurzel zu gehen und nicht bloß die Symptome (wie den mangelnden Zusammenhalt) zu geißeln, wäre die Aufgabe einer linken „Alternative für Deutschland“. Doch so weit scheint es noch nicht zu sein. Zwar hat Martin Schulz einen Zipfel des Themas vor Jahren erfasst, als er sich mit dem „technologischen Totalitarismus“ der Digitalisierung beschäftigte, aber mit seiner kürzlich vorgelegten, zusammengeschusterten „Digitalcharta“ hat er das Riesenthema gründlich versemmelt.
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