Der Gründungsakt war kaum vollzogen, da zeigte die geschlossene Phalanx der Abwehrreaktionen bereits, dass die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ nicht mit einer „Willkommenskultur“ rechnen durfte. Im Gegenteil. Die Parteiführungen der Grünen, Linken und Sozialdemokraten wandten sich mit Grausen ab. Weder sahen sie in der Gründung einen Ansporn zu eigener Kurskorrektur noch erkannten sie in dem Projekt eine positive Erweiterung ihrer Möglichkeiten.
Bei der SPD gab Johannes Kahrs, der Sprecher des rechten Seeheimer Kreises, die Sprachregelung vor. Die neue Bewegung, sagte er, betreffe die SPD nicht im Geringsten. „Das ist ein Machtkampf innerhalb der Linkspartei ... Das ist ein Egotrip von Frau Wagenknecht.“ Lars Klingbeil, Kahrs’ Generalsekretär, legte fast wortgleich nach: „Was Wagenknecht und Lafontaine da machen, ist keine Bewegung, sondern ein Machtkampf innerhalb der Linkspartei.“ Und der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner, Repräsentant des linken Flügels, setzte noch eins drauf: Es handle sich um den „Egotrip notorischer Separatisten“. Für SPD-Mitglieder, denen das verbale Auspeitschen der Aufstehen-Gründer als unangebrachte Arroganz erscheinen musste, schob Lars Klingbeil noch etwas Zuckerbrot nach: „Wir brauchen“, sagte er mit Unschuldsmiene, „ernsthafte Gespräche über ein progressives rot-rot-grünes Bündnis statt Internetseiten ohne politische Konsequenz.“
Die Grünen, die ein Abwandern ihrer Mitglieder zur Aufstehen-Bewegung wohl am wenigsten fürchten müssen, störten sich vor allem am Anspruch der Bewegung, AfD-Wähler zurückgewinnen zu wollen. Das würde der Linkspartei nützen, nicht aber den Grünen. Also bemühte sich das Führungsduo auffallend stark, zwischen guten und schlechten Antifaschisten zu unterscheiden. Mit den Worten Annalena Baerbocks: „Diejenigen, die jetzt ein Aufstehen-Bündnis initiiert haben, die standen in Chemnitz leider nicht auf der Straße, und deswegen ist das auch nicht mein Bündnis.“ Die Ex-Vorsitzende Claudia Roth schlug in die gleiche Kerbe: Wer Schwache gegen Schwache ausspiele, spalte die Gesellschaft.
Überheblich und inkompetent
Wesentlich schwieriger als bei SPD und Grünen gestaltete sich die Abgrenzungsrhetorik bei der Linkspartei, denn „Die Linke“ ist in sich zerstritten. Nur die Hälfte ihrer 44 Vorstandsmitglieder sprach sich am vergangenen Wochenende gegen die Sammlungsbewegung aus. Also musste die Führungsspitze lavieren. Der Co-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch sibyllinisch: „Das Problem ist, dass Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht nicht zwingend für die Zusammenführung von Linken stehen.“ Der Co-Vorsitzende Bernd Riexinger lauwarm: „Eine Bewegung, die die Linke schwächt, ist für mich nicht akzeptabel.“
Als vehementeste Kritiker des Projekts traten – neben den Regierungslinken um Benjamin-Immanuel Hoff aus Thüringen – jene internationalistischen „Strömungen“ in und außerhalb der Partei auf, die seit Oskar Lafontaines Rücktritt vom Vorsitzendenposten erheblich an Einfluss gewonnen haben: die Antikapitalistische Linke (AKL), die von der Sozialistischen Alternative (SAV) zur Linkspartei gewechselten Trotzkisten und die zum Teil aus der Autonomen Bewegung kommenden Vertreter der außerparlamentarischen Interventionistischen Linken (IL). Eine Erschütterung oder gar eine Spaltung der Linkspartei würde ihre Position empfindlich schwächen.
Aber auch viele Medien erteilten der Bewegung allerschärfste Rügen: Der Deutschlandfunk nannte das Projekt Aufstehen eine „Mogelpackung“, die Partizipation nur vorgaukle. Der Spiegel bezeichnete den ersten Auftritt als „verstolpert“: Die Bewegung habe sich zu brav präsentiert und ihr größtes Hindernis seien die Gründerfiguren: eine Hardlinerin der Linken und ein Spalter der Sozialdemokratie. Sogar das konservative Magazin Cicero spottete, die Pressekonferenz der Aufständler habe mehr einer „Sitzgruppe“ geglichen als einer dynamischen Bewegung. Dazu verbreitete Twitter die übliche Häme über die „linksnationalen Hutbürger-Versteher“. Den bissigsten Spott aber zog die Tatsache auf sich, dass die Bewegung lediglich aus einer Webseite mit ein paar Videoclips besteht.
Gerade dieser Einwand zeigt allerdings die ganze Überheblichkeit und Inkompetenz der Kritiker. Er demonstriert, wie wenig sie vom Aufbau moderner Bewegungen in Zeiten des Internets verstehen. Es ist der gleiche ahnungslose Spott, mit dem Google, Amazon und Facebook vor 15 Jahren zu bloßen Webseitenbetreibern erklärt wurden. Man wollte oder konnte das „disruptive“ Veränderungspotenzial der digitalen Technik nicht begreifen.
Die Webseite aufstehen.de ist nämlich der Dreh- und Angelpunkt der Bewegung. Sie erzeugt das wichtigste Instrument einer Polit-Kampagne: die Datenbank. Eine gute Datenbank ist das A und O von „Online-Movements“. Die Washingtoner Digital-Agentur „Revolution Messaging“, die 2008 Barack Obamas und 2016 Bernie Sanders’ Kampagne steuerte, hat die Blaupause für moderne linke Bewegungen geschaffen: Solche Bewegungen entwickeln sich im Netz, gehen aber anschließend – bestens organisiert – auf die Straße. Wer auf der Webseite von „Revolution Messaging“ die „Bernie-2016-Kampagne“ anklickt, liest als Erstes den Satz: „Building a movement online“: „Wie man eine Bewegung online erzeugt“.
Die Webseiten politischer Initiativen analysieren die Daten der Nutzer, die sich auf ihnen registrieren. Sie speichern, wer welche Links im Newsletter anklickt, wer welches Video auf der Webseite wie lange anschaut, wer welches Material bestellt, wer welchen Geldbetrag spendet. Diese Informationen bilden das Grundgerüst für die spätere Kampagne. Denn die Unterstützer gehen erst auf die Straße oder klopfen an den Türen potenzieller Wähler, wenn die Datenbank groß genug ist, um aussagekräftige Aktivistenprofile zu liefern und Unterstützer wirklich effektiv einsetzen zu können.
Während die Datensammlung läuft, wird die Webseite optimiert und an jede Nutzerin wie jeden Nutzer individuell angepasst. Das geht bis in die Formulierung von Überschriften und die Farbgebung des Seitenhintergrunds hinein. Die Sanders-Kampagne, die von Mai 2015 bis Juli 2016 dauerte, kam ohne Fernsehspots und Großspenden aus. Ihr Erfolg beruhte einzig und allein auf der digitalen Infrastruktur. Bereits im Herbst 2015 hatte die Webseite fünf Millionen Besucher pro Tag, zum „Online-Treffpunkt“ der Sanders-Unterstützer auf der Reddit-Seite strömten regelmäßig 180.000 Sympathisanten, eine „Berniebnb“-App vermittelte – analog zu Airbnb – Übernachtungsmöglichkeiten für die 40.000 Aktivisten. Prominente von Warren Buffett bis Edward Snowden, von Spike Lee bis Mia Farrow machten Stimmung für Bernie Sanders. 557 Youtube-Videos, unzählige Tweets, Selfies auf Instagram, Chats auf Whatsapp und Dutzende Facebook-Gruppen brachten die Sanders-Forderungen unters Volk. Am Ende hatte die Internetseite 218 Millionen Dollar von 2,8 Millionen Kleinspendern eingesammelt.
Trotz aller technischen Professionalisierung war die Sanders-Kampagne aber keine Top-down-, sondern eine Bottom-up-Veranstaltung, denn im Anschluss an die Kampagne gründete sich die Organisation „Our Revolution“. Sie vernetzt seit August 2016 die wachsende linke Graswurzelbewegung in den USA. Aus ihr gingen nicht nur linke Medien wie Jacobin, sondern auch linke Kandidaten der Demokratischen Partei wie Alexandria Ocasio-Cortez hervor. Das ist der Weg, den moderne linke Bewegungen heute gehen: Sie beginnen digital und stehen irgendwann – im günstigsten Fall – vor der Regierungsübernahme.
Die deutsche Bewegung Aufstehen ist davon noch weit entfernt. Sie ist bislang nicht professionell genug, und vor allem: Sie macht sich nicht wirklich ehrlich. Sie nimmt viel zu viel Rücksicht auf die Einwände und Bedenken ihrer drei Mutterparteien. Dadurch verschleiert sie ihre wahren Ziele. Die Doppelmitgliedschaft in Partei und Bewegung erscheint ihr als notwendige Brücke, um die Kontakte in die Parteien nicht abreißen zu lassen und niemanden zu vergrätzen. Doch letztlich muss es der Aufstehen-Bewegung um eine Wahlalternative für 2021 gehen. Anders ergibt das Projekt keinen Sinn, anders kann die Bewegung keinen wirklichen Druck auf das Parteiensystem ausüben.
Also müssen sich die Initiatoren entscheiden. Sie können warten, bis die Parteien eine Doppelmitgliedschaft in Partei und Bewegung verbieten, sie können die Trennung aber auch aktiv herbeiführen und so den Start der eigentlichen Bewegung selbst bestimmen.
Zurzeit ist das Projekt erst in der Testphase, in der Phase des Herausfindens, wie hoch die Bereitschaft zur Unterstützung in der Bevölkerung wirklich ist. In dieser Phase müssen die Initiatoren den Ball flach halten. Doch sobald sich abzeichnet, dass Sympathien und Spendenbereitschaft in hohem Maße vorhanden sind, sollte es losgehen. Diesen Moment dürfen die Initiatoren nicht verpassen. Zögern sie zu lange, wird ihr Vorhaben versanden. Die Unterstützer hätten dann das mulmige Gefühl, wieder von den gleichen Bedenkenträgern umgeben zu sein, die seit 15 Jahren keine linke Mehrheit zustande bringen. Nur ein klar definiertes Ziel wie die Teilnahme an der Bundestagswahl 2021 kann die Kraft erzeugen, die bestehenden Parteien zu ändern und die politische Stagnation zu überwinden.
Änderung: In einer früheren Version des Beitrags wurde die Interventionistische Linke (IL) als Strömung innerhalb der Linkspartei bezeichnet. Dies ist jedoch falsch: bei der IL handelt es sich um eine außerparlamentarische linke Organisation. Dieser Absatz wurde korrigiert.
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